Coe, Jonathan

versicherte mir, dass
es okay war. Und während sie sich unter der Decke zusammenrollte, stellte ich
mir den Laptop auf den Schoß und warf einen Blick auf die erste Seite von
Clives Brief. Sie hatte ihn in der Windows-Bild- und Faxanzeige geöffnet,
sodass ich noch das cremige Gelb des Briefpapiers erkennen konnte, auf dem er
geschrieben war, und sogar das geschwungene Wasserzeichen hinter der
Handschrift. Die Schrift selbst war klar und gut leserlich. Wahrscheinlich
hatte er einen Füllfederhalter benutzt. Die Tinte war marineblau, fast
schwarz. Während ich die ersten Sätze las, spürte ich einen leichten Druck an
der linken Schulter, und als ich hinschaute, sah ich, dass Poppy ihr
Kopfkissen dort hingelegt hatte und gerade ihren Kopf darauf bettete. Sie
schaute hoch zu mir, nur kurz, als wollte sie schnell um Erlaubnis bitten, aber
im selben Augenblick zitterten ihre Lider und klappten zu, und schon war sie in
einen tiefen, unerschütterlichen Schlaf gefallen. Ich ließ ein paar Sekunden
vergehen, und als ich mich sicher fühlte, hauchte ich ihr einen Gute-Nacht-Kuss
auf das Haar, und ein seliges Kribbeln durchlief meinen ganzen Körper.
     
    WASSER
     
    Der Außenseiter
    12. März 2001
     
    Meine liebe Poppy,
     
    es ist schade, dass du dieses
Wochenende nicht kommen konntest. Es ist immer etwas einsam hier, wenn du nicht
da bist. Du hast dir die herrlichste Pracht in den Parks entgehen lassen. Die
Krokusteppiche sind in voller Blüte, sehr früh dieses Jahr, und wenn man den
Cherry Walk entlangspaziert und sieht, wie diese weißen und violetten
Schönheiten Feld um Feld ihre Köpfe in die Brise stecken, dann weiß man, dass
wieder Frühling ist - endlich! Ich hoffe trotzdem, dass du eine schöne Zeit
mit deiner Mutter hattest. Hat sie etwas mit dir unternommen, dir etwas Interessantes
gezeigt? Im NFT lief am Samstagabend Der Glanz des Hauses Amberson, den ich gerne mit dir zusammen
angeschaut hätte. Ich bin schließlich allein reingegangen, und vor dem Kino
habe ich einen Freund getroffen, Martin Wellbourne mit seiner Frau Elizabeth;
die beiden haben mich eingeladen, nach der Vorstellung mit ihnen noch etwas
essen zu gehen. So war es dann doch kein ganz einsamer Abend.
    Nun zu unseren Plänen für
Samstag. Ich glaube, ich habe dir schon von der Ausstellung erzählt, die es
zurzeit in der Tate Britain zu sehen gibt und die vielleicht gerade dich
interessieren könnte. Sie zeigen ein paar Filme und Fotografien einer jungen
neuen Künstlerin namens Tacita Dean. Vielleicht hast du schon von ihr gehört.
Vor ein paar Jahren stand sie auf der Shortlist für den Turner-Preis. Wenn es
nicht verlockend genug klingt, sag kurz Bescheid, dann finden wir etwas
anderes, aber ich hoffe, du magst mit mir hingehen. Ich muss gestehen, dass ich
besondere und sehr persönliche Gründe habe, mir die Ausstellung anzusehen.
Dort wird ein Kurzfilm gezeigt, der durch den 1969 auf See verschollenen
Weltumsegler Donald Crowhurst inspiriert wurde - und, soviel ich weiß, auch ein
paar Fotografien seiner unseligen Jacht, der Teignmouth Electron, die Ms Dean
erst vor wenigen Jahren gemacht hat und für die sie eigens an den letzten
Ruheplatz des Boots nach Cayman Brac in der Karibik gereist ist.
    Und jetzt fällt mir auf, dass
du womöglich nicht die leiseste Ahnung hast, wovon ich hier rede. Und dass es,
wenn ich dir erklären will, was mich an Donald Crowhursts Geschichte so
fasziniert, ein sehr langer Brief werden könnte. Egal. Es ist Montagmorgen, vor
mir liegt ein endlos leererTag, und nichts auf der Welt mache ich lieber, als
meiner Nichte einen Brief zu schreiben. Wenn du mich einen Moment
entschuldigst, damit ich mir noch einen Kaffee einschenken kann, will ich
versuchen, es dir zu erklären.
    Also los.
    Wenn du verstehen willst, was
Donald Crowhurst für mich bedeutet hat, als ich acht Jahre alt war, dann musst
du dich mit mir auf eine Reise zurück in die Vergangenheit begeben - über
dreißig Jahre zurück, in das England des Jahres 1968 - ein Land und eine Zeit,
die bereits unvorstellbar fern erscheinen. Die Jahreszahl weckt zweifellos alle
möglichen Assoziationen in dir: das Jahr der Radikalisierung der Studenten,
der Gegenkultur - Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg, das Weiße Album der
Beatles und was nicht alles. Nun, das ist aber nur eine Seite der Geschichte.
England ist - und war immer schon - ein viel widersprüchlicheres Land, als man
uns weismachen wollte. Was denkst du, wenn ich dir sage, dass der große