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Coe, Jonathan

Coe, Jonathan

Titel: Coe, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die ungeheurliche Einsamkeit des Maxwell Sim
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ein
hoffnungsloser Fall. Wir haben nie miteinander reden können. Brüder oder
Schwestern habe ich keine.«
    »Freunde?«
    Meine siebzig Facebook-Freunde
fielen mir ein. Der Ehrlichkeit halber musste ich gestehen: »Eigentlich keine.
Ich habe einen Freund, der heißt Trevor. Er hat in der Nähe gewohnt, aber jetzt
ist er weggezogen. Und sonst ...« Ich verstummte, wollte schnell das Thema
wechseln oder zumindest den Fokus der Aufmerksamkeit. »Und Sie? Haben Sie
Geschwister?«
    »Nein. Ich habe meine Mutter,
aber die ist 'n bisschen ... nennen wir es mal: ichbezogen. Die Sorgen anderer
Menschen sind nicht ihr Ding. Und Dad ist vor einer Weile weggelaufen, nachdem
sie ihn bei einer Affäre erwischt hat.« Wieder ein Lachen - diesmal etwas
kleinlauter. »Er hätte eine gute Ehebruchshelferin gebrauchen können, denke
ich gerade. Schade, dass ich damals noch nicht im Dienst war.«
    »Ihnen geht's also ähnlich wie
mir?«, fragte ich vielleicht eine Idee zu eifrig. »Eigentlich haben Sie auch
niemanden, mit dem Sie reden können.«
    »Ganz so ist es nicht«, sagte
Poppy. »Ich habe immerhin meinen Onkel. Meinen Onkel Clive.«
    Sie brach ihr Sudoku ab,
schloss das Programm, und auf dem Monitor wurde das Hintergrundbild sichtbar,
bei dem es sich - seltsamerweise - um die Fotografie eines sehr alten, halb
verwitterten Katamarans handelte, ein Wrack aus geborstenem Sperrholz und
blätternder Farbe, das verlassen auf einem tropischen Strand lag. Mein
neugieriger Blick verweilte eine Zeitlang auf dem Bild, während sie mir von
ihrem Onkel erzählte und warum sie ihn so gern hatte. Sie erzählte, dass sie im
Alter von dreizehn von ihrer Mutter in ein vornehmes Internat in Surrey
gesteckt worden war, als Heimfahrerin, die jeden Freitag nach Hause
zurückkehrte, aber weil ihre Mutter so oft außer Landes war, hatte sie
stattdessen oft bei ihrem Onkel gewohnt. Sie hatte diese Besuche geliebt, sich
immer darauf gefreut; Clive (der in Kew lebte) war fast jedes Wochenende mit
ihr ins Kino oder ins Theater, in ein Konzert oder eine Kunstgalerie gegangen
und hatte ihr auf diese Weise ganz neue Welten eröffnet. Und wenn sie sich an
einem Wochenende einmal nicht sahen, schrieb er ihr Briefe, lange Briefe
voller Neuigkeiten, Humor, Spaße, Informationen und Anekdoten - und vor allem
voller Liebe.
    »Und wissen Sie was?«,
erzählte sie. »Ich lese diese Briefe heute noch, ich nehme sie immer noch
überall mit hin.«
    »Überall?«
    »Ja. Auch auf Reisen. Ich habe
sie alle dabei.« Sie tippte mit dem Zeigefinger auf ihren Laptop. »Hier habe
ich sie eingescannt. Auch die vielen Fotos, die er mir geschickt hat. Das da
zum Beispiel.« Sie zeigte auf das Foto von dem gestrandeten Boot. »Das ist von
Clive. Nicht das Foto selber«, erklärte sie. »Das hat eine Künstlerin namens
Tacita Dean gemacht. Das Boot heißt Teignmouth Electron.«
    »Teignmouth?«, sagte ich. »Das
ist in Devon, oder?«
    »Genau. Da sind Clive und
meine Mum aufgewachsen.«
    »Und warum haben Sie es auf
Ihrem Desktop?«
    »Weil eine fantastische
Geschichte dazugehört. Die Geschichte eines Mannes namens Donald Crowhurst.«
Sie gähnte unfreiwillig und ausgiebig, bevor ihr einfiel, die Hand vor den Mund
zu halten. »Sorry - ich bin plötzlich furchtbar müde. Haben Sie von ihm
gehört?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Der Mann ist Ende der Sechziger
Jahre einmal um die Welt gesegelt. Oder zumindest hat er das behauptet, getan
hat er es nicht.«
    »Aha«, sagte ich einigermaßen verwirrt. »Sorry, ich
drücke mich wohl nicht sehr klar aus, was?«
    »Sie sind müde. Sie sollten etwas schlafen.«
    »Nein, die Geschichte ist so fantastisch, die müssen
Sie unbedingt hören.«
    »Ach, ich schau mir einfach einen
Film an. Sie sind zu müde. Sie können mir die Geschichte morgen zum Frühstück
erzählen.«
    »Ich will Ihnen die Geschichte
nicht erzählen. Ich will Ihnen vorlesen, was Clive mir darüber geschrieben hat.«
    »Das hat Zeit.«
    »Wissen Sie was?« Poppy
drückte ein paar Tasten auf ihrem Laptop und stellte ihn auf meinen Tisch, dann
langte sie unter ihren Sitz, wo sie ihr Kopfkissen und die Decke verstaut
hatte. »Lesen Sie den Brief doch einfach selber. Da ist er. Er ist ein bisschen
lang, sorry - aber Zeit haben Sie ja genug, und es ist sicher besser, als sich
zwei Stunden lang irgend 'ne entsetzliche Schnulze reinzuziehen.«
    »Und das ist wirklich okay?
Ich meine, nicht dass ich meine Nase hier in irgendwelche ... privaten Dinge
stecke.«
    Aber Poppy

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