Coe, Jonathan
bewundernswerte Figur. Die
Männer, die mit der stärksten Statur aus der Golden-Globe-Saga hervorgegangen
sind, heißen Knox-Johnston und Moitessier. Die herzzerreißendste Geschichte war
wohl die von Nigel Tetley - dem »vergessenen Mann« des Rennens, der so knapp
davor war, den Preis von fünftausend Pfund einzusacken, und der zwei Jahre
später ohne Abschiedsbrief, ohne große Schlagzeilen in den Zeitungen in einem
Wald nahe Dover Selbstmord beging.
Also ... warum Donald
Crowhurst? Oder, anders ausgedrückt, was sagt es uns über unsere Zeit, die
Welt, in der wir heute leben, dass wir uns schwerer tun, uns mit einem Robin
Knox-Johnston zu identifizieren, einem bis ins Groteske dickköpfigen, mutigen, patriotischen
Sportsmann, als mit einer viel geringeren Figur: einem Mann, der sich selbst
und die Menschen in seiner Umgebung belogen hat, einem kleinen Mann in der
Agonie einer aussichtslosen existenziellen Krise, einem gepeinigten Betrüger?
Nun, liebe Poppy, bei unserem
Besuch in der Ausstellung am Samstag werden wir die Antwort wohl nicht finden.
Und ich entschuldige mich dafür, dass ich dir einen so langen Brief zu einem
Thema geschrieben habe, das - so wichtig es für mich war - bei dir oder
irgendjemandem deiner Generation wohl schwerlich denselben Anklang finden wird.
Trotzdem bin ich überzeugt, dass wir einen interessanten Vormittag erleben
werden, und danach hoffentlich gut zu Mittag essen. Die Temperaturen sollen
Ende der Woche zurückgehen, al fresco werden wir wohl nicht speisen können, also vergiss
nicht, Schal und Handschuhe mitzubringen!
Ich freue mich auf unser
Wiedersehen.
Dein dich liebender Onkel Clive
5
Nachdem ich den Brief zum
ersten Mal durchgelesen hatte, war mir unter dem Gewicht von Poppys Kopf die
linke Schulter eingeschlafen. Ich schob ihn vorsichtig zurück, und sie verlagerte
instinktiv den Schwerpunkt auf die andere Seite des Sitzes, von mir weg.
Vorsichtig schob ich ihr das Kopfkissen so weit unter den Hinterkopf, dass sie
ihn darauf ablegen konnte. Sie hatte die Lippen halb geöffnet, in einem
Mundwinkel hatte sich eine kleine Speichelblase gebildet. Ich zog ihr die Decke
so um beide Schultern, dass sie bedeckt waren, und stopfte sie um ihren Körper
herum fest. Sie seufzte leise und sank noch tiefer in sorglosen Schlaf.
Ich setzte mich auf, rieb mir
die Augen und lauschte eine Weile dem gleichmäßigen Dröhnen der Triebwerke. Die
meisten Passagiere schliefen, und die Sitzbeleuchtungen tauchten die Kabine in
ein seltsam gedämpftes Zwielicht. Auf dem Bildschirm vor meinen Augen zeigte
eine ständig wechselnde Karte unsere Position auf dem Weg nach London: Ich
entnahm ihr, dass wir uns irgendwo über dem Arabischen Meer befanden, ein paar
Hundert Meilen westlich von Bangalore. Wie bei allen technischen Dingen hatte
ich auch bei diesem Wunderwerk nicht die leiseste Ahnung, wie es funktionierte.
Noch vor vierzig Jahren hatte ein Donald Crowhurst sich auf dem Atlantik
verstecken können - ein Punkt im Ozean, umgeben von endlosen Meilen offenen
Meeres und doch verborgen vor den Augen aller. Heutzutage werden wir jede
Sekunde von unzähligen um die Erde kreisenden Satelliten überwacht, die mit unglaublicher
Schnelligkeit und Präzision unsere Position bestimmen. So etwas wie eine
Privatsphäre existiert nicht mehr. Wir sind nie mehr ganz allein. Eigentlich
ein tröstlicher Gedanke - einsam hatte ich mich während der letzten paar Monate
oft genug gefühlt, mehr als genug -, aber er tröstete mich nicht. Denn selbst
wenn er sich Tausende von Meilen weit weg auf dem Meer befunden hatte und ganze
Ozeane ihn von seiner Heimat trennten, so war Crowhurst doch immer durch
unsichtbare Bande mit seiner Frau verbunden gewesen. Er durfte sich fast zu
jeder Tagesund Nachtzeit sicher sein, dass sie an ihn dachte. Und ich saß hier
mit einer freundlichen, einfühlsamen jungen Frau, die an meiner Seite schlief
(was so ziemlich das Vertrauensvollste und Intimste ist, das man mit einem
anderen Menschen tun kann), und der traurigen Wahrheit, dass alle Nähe, die ich
zwischen uns spürte, wohl nur vorübergehend war. Dass es am Ende des Flugs
voraussichtlich damit vorbei sein würde.
In den schlaflosen Stunden las
ich den Brief von Poppys Onkel ein zweites, danach noch ein drittes Mal. Es
blieben weit mehr Fragen als Antworten. War Donald Crowhurst ein Feigling
gewesen? Ich konnte es einfach nicht so sehen. Mit sechsunddreißig hatte er
sich auf diese Reise gemacht, und verglichen
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