Coe, Jonathan
attraktive Frau. Und sehr liebenswürdig. Nur leider überhaupt nicht
... mein Typ, fürchte ich.«
Vielleicht hätte sie versucht,
mir zu antworten, ich weiß es nicht. Ich drehte mich um und ging, ohne einen
Blick zurück, die Treppe zu den Fahrkarten-Barrieren hinunter. Mein Gesicht war
brennend heiß, und Tränen der Scham stachen mir in die Augen. Ich wischte sie
mit dem Jackettärmel fort, während ich in der Hosentasche nach meiner Oyster
Card fummelte.
Man sollte meinen, dass es in
dieser Nacht nicht mehr schlimmer kommen konnte. Kam es aber. Aus einem
seltsamen masochistischen Impuls heraus warf ich einen Blick auf meinen
Liz-Hammond-Account im Posteingang und sah, dass Caroline ihr eine Nachricht
geschrieben und - wie verlangt - eine Kopie ihrer jüngsten Kurzgeschichte
angehängt hatte. Sie war mit »Die Brennnesselgrube« überschrieben.
Ich könnte schwören, dass mein
Herz ein paar Sekunden lang aussetzte, nachdem ich den Titel gelesen hatte. Das
hatte sie nicht wirklich gemacht, oder? Sie hatte doch nicht etwa tatsächlich
über diese Episode
geschrieben.
Während der Drucker lief, ging
ich mir einen Drink holen. Ich hatte nicht viel im Haus, deshalb musste ich
mich mit Wodka begnügen. Meine Hände zitterten. Warum tat ich mir das nach der
schmerzvollen Trennung von Poppy auch noch an? Reichte es denn nicht, dass ein
Abend, in den ich so viele (vergebliche) Hoffnungen gesetzt hatte, in der
Katastrophe geendet hatte?
Es half nichts. Der morbiden
Neugier, die mich - den Wodka in der einen, die bedruckten DIN-A4-Blätter in
der anderen Hand - zurück ins Wohnzimmer schlurfen ließ, stand ich wehrlos
gegenüber. Ich ließ mich in das koksgraue Ikea-Sofa fallen, warf noch einen
finsteren Blick auf das gerahmte Foto von Caroline, Lucy und ihrem
Weihnachtsbaum, das spöttisch vom Kaminsims auf mich herunterschaute, und
begann zu lesen. Begann ihre Darstellung der Ereignisse eines Familienurlaubs in
Irland vor fünf Jahren zu lesen - in der dritten Person geschrieben, wenn's
recht ist!, um der Geschichte »Objektivität« und »Distanz« zu verleihen.
ERDE
Die Brennnesselgrube
»Das Schummeln ist ein
interessantes Verhaltensmuster, findest du nicht?«, sagte Chris.
»Wie meinst du das?«, fragte
Max.
Caroline lehnte an der Spüle
und beobachtete die beiden Männer in ihrem Gespräch. Selbst diesem scheinbar
nebensächlichen Gedankenaustausch meinte sie entnehmen zu können, dass sie in
verschiedenen Welten lebten. Chris war ein geübter, angenehmer
Gesprächspartner: Jedem noch so geringen Thema näherte er sich mit Neugier und
dem von Zuversicht getragenen Bestreben, zur Wahrheit durchzudringen. Max war
immer nervös und unsicher - auch jetzt, im Gespräch mit dem Mann, der (das
redete er zumindest jedem und sich selbst ein) sein ältester und bester Freund
war. Sie fragte sich - nicht zum ersten Mal während dieses Urlaubs -, was ihre
Zuneigung zueinander eigentlich so lange am Leben gehalten hatte.
»Ich meine, für uns als
Erwachsene ist Schummeln doch eigentlich kein Thema mehr, oder?«
»Man kann seinen Arbeitgeber
beschummeln«, sagte Max vielleicht eine Spur zu wehmütig.
»Das ist eine der wenigen
Ausnahmen«, räumte Chris ein. »Aber ansonsten scheint das Muster doch
spätestens mit der Pubertät immer mehr zu verschwinden. Ich meine, beim Fußball
wird gefoult, aber sie beschummeln sich nicht gegenseitig. Athleten nehmen
leistungssteigernde Mittel, aber der Zeitungsleser, der einen Bericht darüber
liest, wird nicht sagen, der und der sei beim Schummeln erwischt worden. Für
Kinder dagegen ist es ein sehr wichtiges Verhaltensmuster.«
»Hör mal, es tut mir leid«,
sagte Max.
»Nein, ich rede nicht von
heute Mittag«, erwiderte Chris. »Vergiss es. Das war nicht so schlimm.«
Am früheren Nachmittag waren
Max' Tochter Lucy und Chris' jüngste Tochter Sara bei einer Partie French
Cricket in einem erbitterten und tränenreichen Streit aneinander geraten. Sie
hatten auf der riesigen Rasenfläche vor dem Haus gespielt, und ihre
kreischenden Vorwürfe und Unschuldsbeteuerungen waren auf dem ganzen Bauernhof
zu hören gewesen und hatten Mitglieder beider Familien aus verschiedenen
Richtungen herbeieilen lassen. Seitdem redeten die beiden Mädchen nicht mehr
miteinander. Sie schmollten immer noch in verschiedenen Ecken des
Bauernhauses, die eine mit finsterer Miene über ihren Nintendo DS gebeugt, die
andere mit der Fernbedienung in der Hand auf der Suche nach Sehenswertem
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