Coe, Jonathan
dieser Welt war, und die Zeit genutzt hatte, sich
umzuschauen, Informationen in sich aufzunehmen und zu behalten. Warum hatte Max
es nicht auch so gemacht? Warum konnte er sich selbst an die einfachsten Dinge
aus der Physik, Biologie oder Geografie nicht erinnern? Wie konnte er so lange
in der physischen Welt gelebt und nichts über ihre Gesetze und Prinzipien
gelernt haben? Es war beschämend. Es machte ihm klar, dass er sich durchs Leben
treiben ließ wie durch einen Traum: einen Traum, aus dem er womöglich eines
Tages erwachen würde (voraussichtlich in etwa dreißig Jahren), um dann
festzustellen, dass seine Zeit auf dieser Erde beinahe abgelaufen war, ohne
dass er auch nur den geringsten Zugriff auf sie bekommen hatte.
Max wachte auf aus diesen
finsteren Gedanken, als er Lucys Hand aus seiner herausgleiten fühlte und sie
davonlaufen sah, hinter Chris und seinen drei Kindern her. Vor ihnen ragte die
eindrucksvolle, efeuumrankte Ruine des Ballycarberry Castle empor, und sie
rannte auf die Stelle zu, wo der Fluss einen Bogen machte und man ihn bei
Niedrigwasser manchmal überqueren konnte. Chris erklärte Joe und seinen
Töchtern gerade die Gezeiten und die Gravitationskraft des Mondes, auch so ein
Wissensgebiet (unter vielen), auf dem Max sich nicht unbedingt als Experten
bezeichnen würde. Er hörte zuerst mit halbem Ohr zu, dann wurde er unsicher,
und um sich abzulenken, nahm er einen flachen Stein vom Boden auf und
versuchte ihn möglichst weit über die Wasseroberfläche des Flusses hüpfen zu
lassen. Er versank nach zwei Sprüngen. Als er sich umdrehte und zurück zu den
anderen ging, hatte Chris alle vier Kinder vor einem freigelegten Querschnitt
des Flussufers um sich versammelt. Auch Lucy schien jetzt interessiert
zuzuhören.
»Wenn ein großes Stück Erde so
offen vor uns liegt«, sagte Chris, »ist das eine wunderbare Gelegenheit, alles
Mögliche über die Geschichte dieser Gegend zu erfahren. Erinnert sich jemand,
wie die verschiedenen Schichten des Erdreichs bezeichnet werden?«
»Bodenhorizonte!«, rief Joe
begeistert.
»Richtig. Man nennt sie
Horizonte. Und normalerweise ist die oberste Schicht - diese dünne, dunkle
Schicht hier - bekannt als der O-Horizont, aber in diesem Fall klassifiziert
man sie als H-Horizont, weil die Gegend hier so feucht ist. Wisst ihr, wofür
das >H< steht - in Irland stößt man sehr häufig darauf?«
»Torf?«
»Torf, ganz genau! Dann haben
wir den Mutterboden und den Unterboden. Seht ihr, dass die Schichten immer
heller werden, je tiefer man kommt? Aber hier ist sogar der Unterboden noch
ziemlich dunkel. Das liegt daran, dass Irland ein regenreiches Klima hat, und
Regen ist besonders effektiv, wenn es darum geht, Felsschichten zu
durchbrechen, Erdreich zu bilden und es mit Nährstoffen zu versorgen. Die Erde
ist hier auch ziemlich sandig, weil wir uns an einem Ästuar befinden.«
»Was ist ein Ästuar, Dad?«
»Ästuare nennen wir Küstenregionen,
wo das Süßwasser aus Flüssen und Bächen sich mit dem Salzwasser des Ozeans
mischt. So bilden Ästuare die Grenzen zwischen fluvialen und marinen Systemen.
Die Erde ist dort meistens sehr nahrhaft, weil sie voller verwesender Pflanzen
und Tiere ist. Zum Beispiel dieser Unterboden hier ...«
Was für ein eindrucksvoller
Vortrag, musste Max zugeben. Aber warum sollte Chris auch nicht über
Bodenbeschaffenheiten Bescheid wissen? Immerhin hatte er zwanzig Jahre lang
Geologie an der Universität gelehrt und es inzwischen zum Professor gebracht.
Max fragte sich, ob seinem Töchterlein das auch klar war. Anscheinend nicht.
Sie glotzte ihn schon mit derselben strahlenden Bewunderung an wie seine
eigenen Kinder.
Bald gingen Chris, seine
Töchter und Joe, fröhlich vor sich hin plappernd, weiter, auf die drei Stufen
zu, die grob in die Steinmauer gehauen waren, damit die Leute hinauf auf den
Gehweg klettern und den grasigen Pfad weitergehen konnten, der zum Schloss
führte. Lucy blieb etwas unschlüssig stehen. Sie griff wieder nach der Hand
ihres Vaters und blickte zu ihm hoch. Es war überhaupt nicht klar, ob sie alle
Einzelheiten des kleinen Vortrags verstanden hatte, aber etwas hatte sie ganz
sicher begriffen: dass es zwischen Chris' Kindern und ihrem Vater ein Band des
Vertrauens und der Bewunderung gab; sie hatte die freudige Ehrfurcht gespürt,
mit der sie ihm zugehört hatten. Das alles hatte sie verstanden, und Max
wusste, dass sie sich jetzt zu fragen begann, warum sie und ihren Vater nicht
ähnliche Gefühle
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