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Coe, Jonathan

Coe, Jonathan

Titel: Coe, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die ungeheurliche Einsamkeit des Maxwell Sim
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Jahren, hatten sie nicht mehr
miteinander geschlafen.
     
    Als sie sich am nächsten
Morgen für den Spaziergang fertig machten, war der Himmel grau, und der
Meeresarm führte Niedrigwasser.
    Die beiden Frauen wollten zu
Hause bleiben und das Mittagessen vorbereiten. Demonstrativ in eine
Plastikschürze als das Symbol häuslicher Fronarbeit gewandet, kam Caroline
heraus auf den Rasen, um sie zu verabschieden, aber bevor sie sich auf den Weg
durch die Felder und den Trampelpfad hinunter zum Ufer machten, nahm Lucy ihre
Eltern zur Seite.
    »Ich muss euch was zeigen«,
sagte sie.
    Sie griff nach Max' Hand und
zog ihn quer über die große Rasenfläche zu einer Hecke, die die Grenze zum
Ackerland markierte. Aus dieser Hecke wuchs eine junge Eibe hervor, die einen
einzigen knorrigen Ast zurück über den Rasen streckte. Ein Stück Tau mit einem
Knoten am unteren Ende hing von diesem Ast herab, und darunter war eine tiefe
Grube ausgehoben worden, in der sich dichtes Brennnesselgestrüpp breitgemacht
hatte.
    »Boah«, sagte Max. »Das sieht
gefährlich aus.«
    »Wenn man da reinfällt«,
fragte Lucy, »muss man dann ins Krankenhaus?«
    »Das wohl nicht«, sagte Max. »Aber
es brennt bestimmt ganz schön.«
    Caroline sagte: »Kein guter
Platz für ein Kletterseil. Ich glaube, an dem schaukelst du besser nicht
herum.«
    »Das ist aber unser Spiel«,
rief hinter ihnen eine atemlose Jungenstimme.
    Sie drehten sich um und sahen,
dass Joe auf sie zugelaufen kam, gefolgt von seinem Vater.
    »Was soll das für ein Spiel
sein?«, fragte Caroline.
    »Es ist eine Mutprobe«, erklärte Lucy. »Du musst auf
das Seil klettern, und dann schubsen die anderen dich an, und du schaukelst
zehn Mal über die Grube.«
    »Verstehe«, sagte Chris und ließ ein eher seufzendes
Einverständnis mitschwingen. »Klingt irgendwie nach einer von deinen Ideen,
Joe.«
    »Ist es auch, aber alle wollen
es machen«, behauptete sein Sohn.
    »Na, ich glaube kaum ...«
    »Und was machst du, wenn einer
von euch da reinfällt?«, fragte Caroline. »Das brennt dann ganz entsetzlich.
Überall am Körper.«
    »Das ist doch der Sinn des
Spiels«, sagte Joe mit dem Hochmut dessen, der das Offensichtliche verkündet.
    »Und da wächst auch ganz viel
Ampfer«, sagte Lucy. »Damit kann man es wieder besser machen, wenn man
reinfällt.«
    »Fünf Wörter«, sagte Caroline.
»Nein, nein, nein, nein, nein.«
    Joe wandte sich mit einem
resignierten Seufzer ab. Aber er war nicht der Typ, der lange über die
Enttäuschungen des Lebens grübelte, sein suchender Geist gab nie Ruhe. Als sie
auf den Trampelpfad zugingen, der zum Meeresarm hinunterführte, konnte Caroline
noch hören, wie er seinen Vater fragte, warum Ampfer immer in der Nähe von
Brennnesseln wuchs, und sein Vater gab ihm - wie auf alle seine Fragen - eine
präzise, sachkundige Antwort. Mit den Blicken folgte sie ihren schwindenden
Gestalten, hinter denen Joes zwei Schwestern herliefen und sie einholten: die
Körper des Vaters und des Sohnes, in Umriss und Haltung einander trotz des
Unterschieds an Jahren bereits so ähnlich, und die ungeduldigen, drängenden
Töchter - die drei Kinder um ihren Vater geschart, durch Blut und gegenseitige
Liebe und vor allem ihren unbeirrbaren Respekt vor ihm zu einer
unzertrennlichen Gruppe verbunden. Und sie sah Max und Lucy, die sich
aufmachten, hinter ihnen denselben Pfad hinabzusteigen: wohl Hand in Hand,
aber irgendwie doch getrennt - von einer intervenierenden Kraft auseinander
gehalten -, getrennt auf eine Art, die sie auch aus eigener Erfahrung kannte.
Für einen Augenblick meinte sie in diesem seltsamen Paradox von Nähe und
Zertrennlichkeit das Sinnbild ihrer eigenen Beziehung zu Max zu erkennen. Ein
Pfeil heftigen, unbestimmten Bedauerns durchbohrte sie.
    Sie konnte die beiden beim
Fortgehen noch miteinander reden hören.
    »Warum wächst denn der Ampfer
immer neben Brennnesseln?«, wollte Lucy wissen.
    »Na ja«, antwortete Max. »Die
Natur ist eben sehr klug ...«
    Aber ob er Lucy mehr dazu
sagen konnte, erfuhr Caroline nicht, weil ihre Stimmen vom Seewind
davongetragen wurden.
     
    Wie hat er das gemacht, musste
Max sich auf dem Spaziergang fragen. Wo hat er dieses ganze verfluchte Wissen
her?
    Er hätte es ja verstanden,
wenn es nur Dinge wären, die in sein akademisches Fachgebiet fielen. Aber
Tatsache war, dass er beinahe über alles Bescheid wusste. Und nicht einmal auf
eine unangenehme neunmalkluge Weise. Es war einfach so, dass er seit
dreiundvierzig Jahren auf

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