Coe, Jonathan
bin
nicht zu alt, falls du das meinst. Aber in anderer Hinsicht ist es längst zu
spät.« Sie langte nach der Flasche, schenkte die Gläser voll und trank mehr als
nur einen Schluck. »Ach ja. Hätte, sollte, könnte. Die schmerzlichsten Worte
unserer Sprache.«
Wohin dieses Gespräch noch
geführt hätte, wie unverantwortlich geständig Caroline vielleicht noch
geworden wäre, würden sie nie erfahren. In diesem Augenblick flog die Hintertür
des Bauernhauses auf. Sie hörten verzweifelte Kinder- und Erwachsenenstimmen
aus dem Garten, dann kam Chris in die Küche gestürzt, hektisch und außer Atem.
»Schnell«, sagte er. »Wo ist
der Erste-Hilfe-Kasten?«
Miranda sprang auf.
»Was ist passiert? Wer ist
verletzt?«
»Joe, hauptsächlich. Lucy auch
ein bisschen. Backpulver - wir brauchen Backpulver. Haben wir welches?«
»Was ist denn passiert?«
Ohne auf eine Antwort zu
warten, rannte Caroline hinaus in den Garten, wo das Bild ihrer Albträume auf
sie wartete. Joe lag ausgestreckt auf dem Rasen, reglos: Zuerst glaubte sie, er
sei bewusstlos. Max kniete an seiner Seite, eine Hand sanft auf seine Stirn
gelegt. Lucy kam ihrer Mutter entgegengelaufen und warf sich ihr in die Arme,
klammerte sich mit nackten und, wie Caroline erkennen konnte, von bösen roten
Quaddeln übersäten Armen an ihr fest.
»Was hast du gemacht, Kleines?
Was ist passiert?«
»Das Brennnesselspiel«,
brachte Lucy zwischen Schluchzern hervor. »Die Mutprobe. Wir sind vom Schloss
zurückgekommen und haben angefangen zu spielen, und Daddy hat Joe auf dem Tau
angeschubst. Es hat wahnsinnig geschaukelt, und dann ist er runtergefallen,
mitten in die Grube. Ich bin reingeklettert, um ihn rauszuziehen.«
»Das war aber tapfer von dir.«
»Aber es tut ganz schlimm
weh.«
»Das glaub ich. Keine Angst.
Chris und Miranda sind gleich da. Die bringen was zum Draufschmieren mit.«
»Und Joe? Der hat doch kurze
Hosen an und so. Seine Beine ...«
Caroline drehte sich um und
blickte auf die Gestalten des ausgestreckt auf dem Rasen liegenden Joe und
ihres an seiner Seite knienden Mannes. In wenigen Augenblicken würden Joes
Vater und Mutter bei ihrem Sohn sein, sich um ihn kümmern, sich seiner Not
annehmen. Aber auch noch nach Jahren würde Caroline sich nicht an die folgenden
Minuten des Durcheinanders und der hektischen Aktivitäten erinnern. Sie würde
sich an diesen Augenblick der Stille erinnern; das Tableau (unter dem Wort
behielt sie es in Erinnerung), das sich ihr bot, als sie sich umdrehte. Der auf
dem Bauch liegende Körper von Joe, so reglos, so ruhig, dass einem der Gedanke
kam, er könnte tot sein. Und neben ihm kniend - ebenfalls weinend, wenn sie
sich nicht täuschte - ihr Mann, erstarrt vor dem Schmerz und der Not nicht etwa
seiner eigenen Tochter, sondern des Kindes eines anderen Mannes. Und das
Seltsame daran war, dass sie Max, nachdem sie ihn während der letzten Tage so
aufmerksam und so verstört beobachtet hatte, sich gequält hatte mit dem Rätsel
seiner Verzweiflung, seiner Unangepasstheit, seines Gefühls, ein Fremdkörper
in dieser Welt zu sein, auf einmal - zumindest bildete sie es sich ein - als
einen ganz anderen sah, in einer Attitüde, die zu ihm passte und einen Sinn
hatte: Sie sah ihn als einen Mann, der sich dem Gefühl ergab, das so natürlich,
mit solch heilsamer Unvermeidlichkeit über ihn gekommen sein musste, dass er es
fast wie eine Erlösung empfunden haben mochte; einen Mann in Trauer über den
Tod des Sohnes, den er sich immer gewünscht hatte.
11
Am Montag, den 2. März 2009,
saß ich um 11.30 Uhr vormittags in Alan Guests Büro in Reading. Alle zehn
Vollzeitkräfte der Firma Guest Zahnbürsten einschließlich Trevor, Lindsay,
David Webster und dem Chefbuchhalter Tony Harris-Jones waren anwesend. Der Tag
draußen war grau, aber erträglich, nach Regen sah es nicht aus. Unter uns auf
dem Vorplatz standen, ordentlich aufgereiht, vier schwarze Toyota Prius; nahe
dabei saß auf einem Poller ein gelangweilter Pressefotograf, im Gespräch mit
seinem Kollegen, einem Lokal-Journalisten, der an einem der Autos lehnte und
eine Zigarette rauchte. Die Geschäftsräume von Guest Zahnbürsten befanden sich
in einem Gewerbegebiet im Südwesten der Stadt. Hinter dem Vorplatz sah ich eine
Reihe von Lagerhäusern und niedrigen Bürogebäuden, in denen Unternehmen saßen,
die sich auf Sanitäreinrichtungen, Computerkomponenten oder Sport- und
Freizeitkleidung spezialisiert hatten. Ein Netz von Straßen und
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