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Coe, Jonathan

Coe, Jonathan

Titel: Coe, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die ungeheurliche Einsamkeit des Maxwell Sim
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kleinen
Kreisverkehren durchzog das Gebiet, aber weit und breit war kein Auto zu sehen,
das darauf fuhr. Es herrschte eine beinahe unheimliche Ruhe.
    Die Stimmung in Alan Guests Büro
ließ sich am besten mit dem Wort >angespannt< beschreiben. Heute war ein
großer Tag in der Firmengeschichte von Guest Zahnbürsten - drei Flaschen
alkoholfreier Champagner standen auf dem Tisch, dazu elf Gläser -, aber aus
irgendeinem Grund schien niemand in Feierlaune zu sein. Alan, ein schlanker,
asketisch aussehender, silberhaariger Mittfünfziger, trug eine leicht abwesende
Miene zur Schau. Das Reden blieb weitgehend Trevor überlassen.
    »Also, meine Herren, wir haben
die Wetterdaten der BBC gründlich studiert, und ich darf sagen, dass die
Aussichten für die meisten von euch gar nicht mal schlecht sind ...«
    Ich hätte besser zuhören
sollen, aber ich war nicht in der Lage, mich zu konzentrieren. Immer wieder
kehrten meine Gedanken zu Carolines Erzählung zurück. Während der ersten Tage
nach der Lektüre hatte ich an gar nichts anderes denken können. Ich war so
empört, so voller Wut auf sie, dass jeder Zentimeter meiner geistigen
Kapazitäten (misst man geistige Kapazitäten in Zentimetern?) von Gedanken an
eine gepfefferte Antwort in Anspruch genommen war. Ich entwarf Dutzende von
E-Mails im Kopf - teils von mir, teils von Liz Hammond. Wohl an die hundert Mal
nahm ich das Telefon zur Hand, wollte sie anrufen, und legte es wieder weg. Und
am Ende habe ich dann, wie man sich denken kann, gar nicht reagiert. Wie auch?
Was hätte ich sagen sollen? Mein Gefühl, verraten worden zu sein durch das, was
sie geschrieben hatte, fand keine Worte. Und auch wenn ich mich - zumindest bis
zu einem gewissen Grad - beruhigt hatte seitdem, gab es immer noch Augenblicke,
in denen mein Gerechtigkeitsempfinden sich aufbäumte. Ich war machtlos. Es
geschah, ohne dass ich es wollte. Und es geschah jetzt.
    »Wir haben also nicht mit
größeren Störungen meteorologischer Art zu rechnen«, fuhr Trevor fort.
»Zumindest nicht in der ersten Wochenhälfte. Die Überfahrt von Aberdeen könnte
etwas unruhig werden, Max, wenn du Mittwoch oder Donnerstag fährst, aber ich
wüsste nicht, warum du so lange brauchen solltest ...«
    Gleichzeitig musste ich zähneknirschend
meine Bewunderung für Carolines Leistung eingestehen. Ich bin kein Literaturkritiker
(Gott bewahre), aber als schriftstellerische Arbeit kam es mir ... na ja,
eigentlich recht passabel vor. Zumindest nicht schlechter als viele der
aufgeblasenen Langweiler, die sie mir während unserer Ehe unter die Nase
gehalten hatte, um mich dazu zu bringen, »ernsthafte Literatur« zu lesen.
    »Also, wie ihr wisst, haben
wir in unserer Spesenkalkulation für jeden fünf Übernachtungen bewilligt, aber
die werden die meisten von euch sicher nicht benötigen. Schließlich setzen wir
einen Preis für die schnellste Hin- und Rückreise aus, auch wenn wir alle
wissen, wer den gewinnen wird.« (Gelächter, Blicke zu Tony Harris-Jones hinüber,
den die Reise nur bis Lowestoft führen würde.) »Aber wenn die anderen es in
vier, vielleicht sogar in drei Tagen schaffen, dann wird unser oberster
Dienstherr die Einsparungen zu schätzen wissen. Wir stecken mitten in einer
hässlichen Rezession, und uns allen ist nur zu bewusst, dass die Zeiten da
draußen hart sind.« (Die Blicke wanderten zu Alan Guest hinüber, und diesmal
waren sie nicht von Gelächter begleitet. Er starrte ausdruckslos vor sich hin.)
Und ich bitte euch, die Herbergen mit Augenmaß zu wählen. Bitte keine
Fünf-Sterne-Etablissements. Keine schottischen Schlösser, keine
Landhaus-Hotels. Travelodges oder Best Western, wenn es denn unbedingt was
Gehobeneres sein muss. Damit die Sache unter fünfzig Pfund bleibt, wenn irgend
möglich.«
    Und die nächste Frage war -
wie hatte sie das eigentlich gemacht? Konnte sie Gedanken lesen oder was?
Caroline und ich haben in den letzten Jahren unserer Ehe doch kaum noch ein
Wort miteinander geredet. Die meiste Zeit hab ich schweigend neben ihr
gesessen, vor dem Fernseher oder am Steuer unseres Wagens oder ihr gegenüber am
Frühstücks- oder am Esstisch, und keiner hat ein Wort gesprochen, und ich kann
ehrlichen Herzens sagen, dass ich nie auch nur die leiseste Ahnung hatte, was
in ihrem Kopf vorging. Wie hat sie es geschafft, meine Gedanken mehr oder
weniger akkurat in ihre Erzählung zu übertragen, mit ungefähr fünfundachtzig
Prozent Treffsicherheit, würde ich sagen. Es war beängstigend. War ich

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