Coe, Jonathan
müssen hier noch irgendwo
rumliegen (auch wenn er nicht genau zu wissen schien, wo). Ich würde also die
Schlüssel abholen und am nächsten Morgen in der Wohnung vorbeischauen.
Natürlich bedeutete das einen eher gemächlichen Beginn meiner Reise, aber mir
blieb trotzdem noch reichlich Zeit, die Shetlands zu erreichen, und es hatte
auch keinen Sinn, heute Abend noch bis nach Kendal zu fahren, weil Lucy nicht
da sein würde. Ich hatte mit Caroline telefoniert und erfahren, dass sie am
Abend auf der Geburtstagsfeier einer Freundin war und auch dort übernachten
würde. Ich konnte also frühestens am Dienstagabend mit ihr essen gehen. Das
passte gut. Wenn ich Mittwochmorgen nach Aberdeen weiterfuhr, konnte ich die
Fünf-Uhr-Fähre leicht erreichen. Außerdem versprach der Besuch bei den
Eheleuten Byrne ein angenehm nostalgischer Zeitvertreib für ein paar Stunden zu
werden.
Ich richtete mich bei einem
Tempo von knapp neunzig Stundenkilometern ein. Jedes andere Fahrzeug auf der
Autobahn fuhr schneller als ich, selbst die schweren Lastwagen. Mein
Benzinverbrauch ging auf vier Liter zurück, und ich begann an das viele Benzin
zu denken, das eingespart werden könnte, wenn jeder in diesem Tempo unterwegs
wäre. Warum hatten sie es alle so eilig? Vielleicht waren die Autobahnen selber
das Problem. Autobahnen gestatteten es einem, schneller zu fahren, ja, aber
darüber hinaus verleiteten sie einen dazu, schneller zu fahren, zwangen einen nachgerade zu einem
höheren Tempo, weil die Fahrt auf ihnen so eine verdammt eintönige Angelegenheit
war. Ich fuhr noch keine Viertelstunde auf der M40, und schon überkam mich
große Langeweile. Es gab absolut nichts zu sehen, nichts zu betrachten, außer
den Satzzeichen, die die Autobahn selbst einteilten - Wegweiser, Pfeile,
Brücken, Schilderbrücken, die sich irgendwann sowieso alle zu einer unlesbaren,
bedeutungslosen Folge aneinander reihten. Und zu beiden Seiten Landschaft, aber
gesichtslos, mal ein Haus, mal ein Silo, mal der Blick auf eine ferne Stadt,
ein fernes Dorf, das war alles. Mir kam der Gedanke, dass die Gebiete rechts
und links der Autobahnen einen gewaltigen Teil unseres Landes abdecken mussten,
der nie von jemandem besucht wird, auf dem niemand spazieren geht, den nie
jemand anders erfährt als durch den eintönigen, nirgendwo festgehaltenen Blick
aus dem fahrenden Auto. Das sind Wüsteneien, vergessene Gelände.
»Welcome Break 5000 m«, stand
auf einem Schild; ich beschloss, kurz von der Autobahn abzufahren und etwas zu
essen. Bis zur übernächsten Raststätte - betrieben von Moto - waren es noch
dreißig Kilometer, und dann kam auf sechzig Kilometern überhaupt keine mehr.
So lange wollte ich nicht warten. Und auch wenn ich im Augenblick nicht sehr
auf Kentucky Fried Chicken stand, hatte das Gesicht von Colonel Sanders, das
mir vom Begrüßungsschild entgegenstrahlte, eine beruhigende Wirkung. Also bog
ich in die Ausfahrt 8A, lavierte mich durch die Serie von Mini-Kreisverkehren
und suchte nach einer Lücke auf dem Parkplatz, der schon zu dieser Tageszeit berstend
voll war. Nachdem ich den Prius zwischen einen Ford Fiesta und einen Fiat Punto
gequetscht hatte, schaltete ich mit einer gewissen Erleichterung den Motor aus.
Es war Viertel nach eins, und
ich war hungrig. Die Menschen um mich herum strebten der Restaurantmeile zu -
vorwiegend Geschäftsleute wie ich in dunklen Anzügen mit Schlips und Kragen,
manche das Jackett nur über die Schulter gehängt (obwohl es kalt war und ich
meines dementsprechend anbehielt). Mich überkam eine Woge des Wohlbefindens
bei dem Gedanken, wieder Teil von etwas zu sein: Teil eines landesweiten
Prozesses, Teil einer Gemeinschaft - der Gemeinschaft der Geschäftsleute -, die
Tag für Tag ihren Beitrag dazu leistete, den britischen Motor am Laufen zu
halten. Jeder von uns hatte seine Rolle zu spielen. Jeder hier war mit dem
Verkauf oder Einkauf von etwas befasst, oder dem Überprüfen oder Instandhalten
oder Einschätzen oder Bewerten von etwas. Ich war wieder angekoppelt: gehörte
wieder zu einer Mehrheit.
Die Raststätte selbst bot den
perfekten Mikrokosmos einer gut funktionierenden westlichen Gesellschaft dar.
Allen menschlichen Grundbedürfnissen war Rechnung getragen: dem der
Kommunikation (es gab einen Laden, in dem Handys und Mobilfunkzubehör verkauft
wurden), dem der Zerstreuung (es gab einen Spielbereich mit
Glücksspielautomaten), dem der Notwendigkeit, etwas zu essen und zu trinken und
es nach der Verdauung wieder
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