Coelho,Paul
und ihre zwei Kinder gegeben hatte.
»Aber ich habe meinen Engel
gesehen«, sagte sie laut in die Stille der Wüste hinein. »Er war ganz in Licht
gehüllt und hat mich gebeten, diese Mission zu erfüllen. Er hat mich nicht
gezwungen, hat weder gedroht noch Belohnungen versprochen. Er hat mich nur
gebeten.«
Am nächsten Tag hatte sie alles
aufgegeben und war in die Mojave-Wüste gefahren.
Anfangs hatte sie ganz allein gepredigt, von den offenen Pforten des
Paradieses gesprochen. Ihr Mann hatte die Scheidung eingereicht und das
alleinige Sorgerecht für die gemeinsamen Kinder erhalten. Sie verstand selbst
nicht, warum sie diese Mission übernommen hatte, aber immer, wenn sie weinte,
weil sie traurig und einsam war, erzählte ihr der Engel von anderen Frauen,
die die Botschaften von Gott erhalten hatten: die Jungfrau Maria, die heilige
Teresa, Jeanne d'Arc . Er sagte, dass die Welt vor
allem Vorbilder brauche, Menschen, die imstande waren, ihre Träume zu leben und
für ihre Ideen zu kämpfen.
Fast ein Jahr lang hatte sie in
der Nähe von Las Vegas gelebt. Das Geld, das sie mitgenommen hatte, war
schnell verbraucht, sie litt Hunger und schlief im Freien. Bis eines Tages ein
Gedicht in ihre Hände fiel.
Es erzählte vom Leben einer
Heiligen, Maria von Ägypten. Sie war unterwegs nach Jerusalem gewesen, hatte
aber kein Geld für die Überfahrt über einen Fluss gehabt. Der Fährmann hatte
die schöne Frau angesehen und gemeint, wenn sie auch kein Geld habe, so habe
sie doch ihren Körper. Maria von Ägypten gab sich darauf dem Fährmann hin. Als
sie in Jerusalem ankam, erschien ihr ein Engel und segnete ihre Tat. Nach ihrem
Tod wurde sie heiliggesprochen , auch wenn sich heute
kaum jemand mehr an sie erinnert.
Vahalla hatte in
dieser Geschichte ein Zeichen gesehen. Tagsüber hatte sie weiterhin Gottes Wort
gepredigt, doch zweimal in der Woche war sie in die Casinos gegangen, hatte
reiche Freier gefunden und sich so über Wasser gehalten. Nie hatte sie ihren
Engel gefragt, ob sie richtig handle - und er hatte auch kein Wort darüber
verloren.
»Es fehlt nur noch eine Runde«,
sagte Vahalla laut in die still vor ihr liegende
Wüste hinaus. »Es fehlt nur noch eine Runde, dann ist die Mission erfüllt, und
ich kann wieder in die Welt zurückkehren. Ich weiß nicht, was mich erwartet,
aber ich möchte zurückkehren. Ich brauche Liebe, Zärtlichkeit, brauche einen
Mann, der mich beschützt, so, wie mein Engel im Himmel mich beschützt. Ich habe
meinen Teil erfüllt: Ich bereue es nicht, aber es war sehr schwer.«
Sie bekreuzigte sich abermals und
kehrte zum Camp zurück.
A ls sie
dort ankam, bemerkte sie, dass das brasilianische Ehepaar noch immer am Feuer
saß und in die Flammen blickte.
»Wie viele Tage fehlen noch, bis
vierzig Tage voll sind?«, fragte sie Paulo. »Elf.«
»Also dann: morgen Abend um zehn
im Golden Canyon, dort werde ich dich die Vergebung annehmen lassen. Das Ritual,
das die Rituale umstürzt.«
Paulo war verblüfft. Es stimmte!
Er hatte die Antwort immer vor seiner Nase gehabt.
»Wie?«, fragte er.
»Durch den Hass«, antwortete Vahalla .
»In Ordnung«, sagte er und
versuchte, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen. Aber Vahalla wusste, dass Paulo im Ritual, das die Rituale
umstürzt, noch nie den Hass benutzt hatte.
Sie ließ die beiden am Feuer
sitzen und ging zu Röthas Schlafplatz. Sie streichelte sanft über ihr Haar, bis
das Mädchen aufwachte - vielleicht redete sie gerade mit den Engeln, die in
den Träumen erscheinen.
Schließlich öffnete Rötha die
Augen.
»Morgen wirst du lernen, Vergebung
anzunehmen«, sagte Vahalla . »Und bald wirst auch du
deinen Engel sehen können.«
»Aber ich bin doch schon eine
Walküre.«
»Natürlich. Auch wenn es dir nicht
gelingt, deinen Engel zu sehen, wirst du eine Walküre bleiben.«
Rötha lächelte. Sie war 23 Jahre
alt und stolz darauf, mit Vahalla durch die Wüste zu
ziehen.
»Morgen von Sonnenaufgang bis zum
Ende des Rituals, das die Rituale umstürzt, wirst du nicht die Lederkleidung
tragen!«
Vahalla umarmte
Rötha zärtlich.
»Nun kannst du weiterschlafen«,
sagte sie.
Paulo und Chris blieben noch fast
eine halbe Stunde am Feuer sitzen. Dann rollten sie ein paar Kleidungsstücke zu
einem Kopfkissen zusammen und machten sich zum Schlafen fertig. Sie hatten in
jedem Ort, durch den sie gekommen waren, Schlafsäcke kaufen wollen, aber dann
doch keine Lust gehabt, in einen Laden zu gehen. Außerdem hofften sie
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