Coelho,Paul
Salomo: >Es ist gut, dass du dies fassest und jenes auch nicht aus
deiner Hand lassest; denn wer Gott fürchtet, der entgeht dem allem.<«
»Ein seltsamer Text«, sagte Chris.
»Sehr seltsam.«
»Mein Engel spricht immer häufiger
mit mir. Ich beginne, seine Worte zu verstehen. Ich verstehe jetzt genau, was
du in der Mine gemeint hast. Ich hätte nie gedacht, dass ich direkt mit meinem
Schutzengel reden könnte.«
Paulo war glücklich darüber. Und
sie betrachteten beide die Dämmerung. Diesmal war Vahalla nicht gekommen, um Paulo zu ihrem gemeinsamen rituellen Spaziergang abzuholen.
Jetzt glitzerten keine Steinchen
mehr wie vorhin in der Abendsonne. Der Mond ergoss sein gespenstisches Licht in
die Schlucht. Sie konnten die eigenen Schritte im Sand hören, über den sie
wortlos gingen und dabei auf das kleinste Geräusch horchten. Sie wussten
nicht, wo sich die Walküren versammelt hatten.
Sie gelangten fast bis zum Ende
der Schlucht, zu der Stelle, an der sie sich weitete und eine kleine Lichtung
bildete. Von den Walküren keine Spur.
Chris brach das Schweigen.
»Vielleicht haben sie es sich
anders überlegt.«
Ihr war klar, dass Vahalla dieses Spiel so lange wie möglich in die Länge
ziehen würde. Sie selber dagegen hätte es am liebsten sofort beendet.
»Die Tiere haben ihren Bau
verlassen«, fuhr sie fort. »Ich habe Angst vor den Schlangen. Lass uns gehen.«
Doch Paulo schaute hoch.
»Sieh mal«, sagte er. »Sie haben
es sich doch nicht anders überlegt.«
Chris folgte seinem Blick. Oben
auf dem Felsen, der die rechte Wand der Schlucht bildete, war eine
Frauengestalt zu sehen, die auf sie herunterschaute.
Chris lief es kalt über den
Rücken.
Noch eine Frauengestalt tauchte
auf. Und noch eine. Chris trat in die Mitte der Lichtung und entdeckte auf der
gegenüberliegenden Seite drei weitere Frauengestalten.
Zwei fehlten.
»Willkommen im Theater!«, hallte Vahallas Stimme zwischen den Wänden. »Die Zuschauer sind
schon da und warten auf das Spektakel.«
Mit diesen Worten eröffnete Vahalla immer ihre Darbietungen auf den öffentlichen
Plätzen.
>Aber ich spiele doch nicht
mit<, dachte Chris. Vielleicht sollte ich zu den Walküren hochsteigen.<
»Hier wird der Preis am Ausgang
bezahlt«, fuhr die Stimme genau wie sonst bei den öffentlichen Darbietungen
fort. »Der Preis kann hoch sein, aber vielleicht geben wir das Geld auch
zurück. - Willst du das Risiko eingehen?«
»Ja, ich will«, antwortete Paulo.
»Was soll das Ganze?«, rief Chris
unvermittelt. »Warum dieses ganze Theater, diese Rituale, so viel Tamtam, um
einen Engel zu sehen? Reicht nicht das Channeling ,
reicht es nicht, mit dem Engel zu reden? Warum macht ihr es nicht wie alle
anderen und kommuniziert auf einfache Weise mit Gott und allem, was auf dieser
Erde heilig ist?«
Sie erhielt keine Antwort. Paulo
fand, dass Chris alles kaputtmachte.
»Ruhe!«, rief Vahalla .
»Das Publikum äußert sich erst am Ende! Ob es applaudiert oder buht - den
Eintritt zahlt es so oder so!«
Vahalla erschien.
Sie trug nach Indianerart ein gelbes Tuch um den Kopf, wie immer wenn sie am
Ende des Tages zum Gebet zusammenkamen. Es war ihre Krone.
Sie wurde von einer barfüßigen
jungen Frau in einer einfachen Bluse und in Bermudas begleitet. Als die beiden
näher kamen und das Mondlicht auf ihre Gesichter fiel, sah Chris, dass es eine
der Walküren war - Rötha, die Jüngste der Gruppe. Ohne ihre Lederkluft und die
aggressive Haltung wirkte sie wie ein Kind.
Vahalla stellte
die junge Frau vor Paulo hin. Sofort begann sie, ein großes Quadrat um beide in
den Sand zu zeichnen. An jeder Ecke hielt sie inne und sprach ein paar Worte
auf Latein. Paulo und die junge Frau wiederholten die Worte - die junge Frau
vertat sich ein paarmal , und sie mussten noch mal von
vorn anfangen.
>Sie weiß gar nicht, was sie
sagt<, dachte Chris. Das Quadrat und die lateinischen Worte gehörten nicht
zu dem Stück, das sie auf den Plätzen aufführten.
Als das Quadrat fertig war, bat Vahalla die beiden zu sich an den Rand, blieb selber aber
außerhalb stehen.
Dann wandte sie sich Paulo zu,
blickte ihm tief in die Augen und überreichte ihm ihre Reitgerte.
»Krieger, du bist durch die Macht
dieser Linien und dieser heiligen Namen an dein Schicksal gefesselt. Krieger
und Sieger in der Schlacht, du befindest dich in deiner Burg und wirst deine
Belohnung empfangen.«
Paulo erschuf im Geiste die Wände
der Burg. Von diesem Augenblick an waren die Schlucht, die
Weitere Kostenlose Bücher