Coelho,Paul
immer
überall, ein Hotel zu finden. Daher mussten sie, wenn sie mit den Walküren
kampierten, entweder im Wagen oder an der Feuerstelle schlafen. Beiden hatten
schon Funken das Haar versengt - aber Schlimmeres war bislang nicht passiert.
»Was wollte sie damit sagen?«,
fragte Chris, als beide nebeneinanderlagen .
»Nichts Wichtiges.« Paulo war müde
und hatte ein paar Dosen Bier getrunken.
Doch Chris ließ nicht locker. Sie
brauchte eine Antwort.
»Alles im Leben ist Ritual«, sagte
Paulo. »Für die Schamanen und für diejenigen, die noch nie vom Schamanentum
gehört haben. Die einen wie die anderen versuchen immer, ihre Rituale perfekt
auszuführen.«
Dass Schamanen Rituale hatten,
wusste Chris. Und dass es im normalen Leben ebenfalls welche gab - Hochzeiten,
Taufen, Diplomfeiern -, war ihr ebenfalls klar.
»Nein, diese offensichtlichen
Rituale meine ich nicht«, fuhr er ungeduldig fort. Er wollte schlafen, doch
Chris tat so, als habe sie seinen aggressiven Tonfall nicht bemerkt. »Ich sage,
alles ist Ritual. So, wie eine Messe ein großes Ritual ist, das aus
verschiedenen Teilen besteht, ist das Leben eines jeden Menschen auch eines.
Ein sorgfältig ausgearbeitetes
Ritual, das er versucht, präzise durchzuführen, weil er Angst hat, dass alles
in sich zusammenfällt, falls irgendein Teil ausgelassen wird. Der Name dieses
Rituals ist Routine.«
Er setzte sich auf. Ihm war wegen
des Bieres etwas schwindlig, und im Liegen würde er die Erklärung nicht zu Ende
bringen.
»Wenn wir jung sind, nehmen wir
nichts wirklich ernst. Aber ganz allmählich verfestigen sich die täglichen
Rituale und übernehmen das Kommando. Wenn die Dinge mehr oder weniger so
laufen, wie wir es uns vorstellen, wagen wir nicht, das Ritual aufzubrechen und
Risiken einzugehen. Wir geben vor, uns zu beklagen, doch die Tatsache, dass ein
Tag wie der andere ist, gibt uns zugleich auch Sicherheit. Zumindest gibt es
keine unverhofften Gefahren.
Auf diese Weise gelingt es uns,
jede Art von innerem Wachstum zu vermeiden, außer dem vom Ritual vorgesehenen
- soundso viele Kinder, diese oder jene Beförderungen, dieser oder jener
finanzielle Erfolg.
Wenn das Ritual sich verfestigt,
wird der Mensch zu dessen Sklaven.«
»Passiert das auch den Schamanen
und Magiern?«
»Selbstverständlich. Sie benutzen
das Ritual, um mit der unsichtbaren Welt in Kontakt zu treten, um ihr
>zweites Bewusstsei < zu zerstören und in die
Welt des Außergewöhnlichen einzutreten. Aber auch für uns wird das eroberte
Terrain zu etwas Vertrautem. Man muss immer wieder zu neuen Ufern aufbrechen.
Doch jeder Magier oder jede Hexe hat Angst, das Ritual zu verändern. Angst vor
dem Unbekannten oder Angst vor neuen Ritualen, die möglicherweise nicht
funktionieren - das ist eine irrationale, sehr starke Angst, die ohne Hilfe von
außen nie verschwindet.«
»Und was ist das >Ritual, das
die Rituale umstürzt«
»Da ein Magier es nicht schafft,
seine Rituale zu verändern, hat die >Tradition< beschlossen, den Magier
zu verändern. Das geschieht durch eine Art >Heiliges Theater<, in dem er
eine andere Person spielen muss.«
Paulo legte sich wieder hin,
drehte sich auf die Seite und tat so, als würde er schlafen. Vermutlich wollte
Chris noch mehr Erklärungen hören - und wissen wollen, wieso die Walküre das
Wort »Hass« gebraucht hatte.
Im heiligen Theater wurden niemals
negative Gefühle angerufen. Im Gegenteil, die Menschen, die daran teilnahmen,
versuchten, mit dem Guten zu arbeiten, starke, erleuchtete Personen
darzustellen. Damit konnten sie sich davon überzeugen, dass sie besser waren,
als sie dachten, und wenn sie es glaubten, veränderte sich ihr Leben.
Die Arbeit mit negativen Gefühlen
würde ihn glauben lassen, er sei schlechter, als er angenommen hatte.
S ie
verbrachten den nächsten Tag mit dem Besuch des Golden Canyon, einer Reihe von
Schluchten mit etwa sechs Meter hohen Wänden, die in gewundenen Kurven verliefen.
Als sie bei Sonnenuntergang die Channeling-Übung machten, wurde ihnen klar, warum der Canyon diesen Namen trug: Tausende von in
den Fels eingeschlossenen Mineralien reflektierten die Sonnenstrahlen, was
dazu führte, dass die Wände wirkten, als seien sie aus Gold. »Heute Nacht wird
Vollmond sein«, sagte Paulo. Sie hatten bereits einmal Vollmond in der Wüste
erlebt: Es war ein außergewöhnliches Schauspiel.
»Als ich heute Morgen aufwachte,
fiel mir eine Passage aus der Bibel ein«, fuhr er fort. »Ein Vers aus dem
Prediger
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