Coelho,Paul
Schuldgefühle bereits hinter sich
gelassen, zudem war das, was sie wollte, kein Verbrechen. Nur eine Laune. Sie
hatte ein Recht darauf, ihre Launen zu kultivieren - ihr Engel hatte sie
gelehrt, dass diese Dinge niemanden von Gott und von der heiligen Aufgabe
entfernen, die ein jeder in seinem Leben zu erfüllen hatte.
Sie erinnerte sich daran, wie sie
Chris zum ersten Mal in der Snack-Bar der Tankstelle gesehen hatte. Ein Schauer
war über ihren Körper gelaufen, und seltsame Vorahnungen, die sie damals nicht
verstand, hatten sich ihrer bemächtigt. >Das Gleiche wird mit ihr geschehen
sein<, dachte sie.
Und Paulo? Was ihn betraf, hatte
sie ihre Mission erfüllt. Und er hatte, ohne es zu merken, einen hohen Preis
bezahlt - während ihrer Spaziergänge durch die Wüste hatte sie mehrere Rituale
gelernt, die J. nur mit seinen Schülern benutzte. Paulo hatte alles verraten.
Sie begehrte ihn durchaus auch als
Mann. Nicht um dessentwillen, was er war - sondern um dessentwillen, was er
wusste. Eine Laune, und ihr Engel verzieh ihr Launen.
Sie schaute wieder zu Chris und
dachte:
>Ich bin auf meiner zehnten
Runde. Auch ich muss mich verändern. Diese Frau ist ein Werkzeug der Engel.<
Ohne den Blick von Chris
abzuwenden, sagte die Walküre:
»Das Ritual, das die Rituale
umstürzt. Möge Gott uns sagen, was unsere Rolle darin sein soll.«
Chris nahm die Herausforderung an.
Der Augenblick, in dem sie wachsen sollte, war gekommen.
Die beiden begannen, um einen
imaginären Kreis herumzugehen, so, wie es die Cowboys im Wilden Westen immer
vor einem Duell getan hatten. Man hörte keinen Laut - es war so, als wäre die
Zeit stehengeblieben .
Fast allen Anwesenden war klar,
was sich dort abspielte, denn sie waren Frauen, waren gewohnt, um Liebe zu kämpfen.
Und sie würden alle Mittel dafür einsetzen. Sie würden es für die Liebe tun,
die ihr Leben und ihre Träume rechtfertigte.
Eine Veränderung vollzog sich.
Chris verwandelte sich in die starke Frau, die sie immer bewundert hatte und
gern sein würde. Sie zog die Lederkleidung an, band sich das Halstuch um den
Kopf, und das Medaillon des Erzengels Michael glänzte auf ihrer Brust. Sie
wurde zu Vahalla .
Auf eine Kopfbewegung von Chris
hin blieben beide stehen. Vahalla erkannte sich in
der anderen wie in einem imaginären Spiegel. Die Kunst der Kriegsführung war
ihr in Fleisch und Blut übergegangen, aber die Lektionen der Liebe hatte sie
vergessen. Sie kannte die fünf Gesetze des Sieges, schlief mit allen Männern,
auf die sie Lust hatte, aber die Kunst der Liebe hatte sie vergessen.
Vahalla sah sich
in der anderen Frau widergespiegelt. Sie würde diese andere Frau besiegen
können. Doch nun entstand in ihr ebendiese andere Frau, die genauso mächtig
war wie sie, aber nicht gewohnt, diese Art von Kampf auszufechten.
Vahalla spürte es
ganz deutlich: Sie verwandelte sich in eine liebende Frau, die ihrem Mann
folgte, wenn es notwendig war, die sein Schwert trug und ihn vor allen Gefahren
schützte. Sie war eine starke Frau, obwohl sie schwach wirkte. Sie war jemand,
der den Weg der Liebe als einzig möglichen Weg ging, um zu Weisheit und zu den
Mysterien zu gelangen, die sich durch Hingabe und Vergebung offenbarten. Vahalla wurde zu Chris.
Chris ging langsam auf die
Schlucht zu. Vahalla tat es ihr gleich. Beide
näherten sich dem Abgrund. Ein Sturz dort hinunter konnte tödlich sein oder
schwere Verletzungen nach sich ziehen. Chris blieb am Rand stehen, gab der anderen
Zeit, sich neben sie zu stellen.
Der Grund der Schlucht lag in
sechs Metern Tiefe und darüber stand in Tausenden von Kilometern Entfernung der
Mond. Die beiden Frauen standen sich am Rand der Schlucht gegenüber.
»Er ist mein Mann. Nimm ihn dir
nicht einfach aus einer Laune heraus. Du liebst ihn nicht«, sagte Chris. Vahalla schwieg.
»Ich werde noch einen Schritt
tun«, fuhr Chris fort. »Und ich werde überleben. Ich bin eine mutige Frau.«
»Ich werde es auch tun«, sagte Vahalla .
»Tu es nicht! Du kennst jetzt die
Liebe. Es ist eine unendlich große Welt, du wirst dein ganzes Leben brauchen,
um sie zu begreifen.«
»Ich werde es nicht tun, wenn du
es auch nicht tust. Du kennst jetzt deine Kraft. Dein Horizont reicht jetzt bis
zu Bergen, Tälern, Wüsten. Deine Seele ist groß, und sie wird immer weiter
wachsen. Du hast deinen Mut entdeckt, und das reicht.«
»Es reicht, wenn ich dir
beigebracht habe zu dienen, als der Preis, den du einfordern wolltest.«
Langes Schweigen.
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