Coelho,Paul
machen«, sagte sie, »aber, wie gesagt, ich bin meinem Tod
nahe. Vielleicht habe ich noch fünf, zehn, zwanzig Jahre, aber in meinem
Alter wird uns allen klar, dass wir sterben werden.«
»Auch ich weiß, dass ich sterben
werde«, sagte Chris.
»Nein, aber nicht so, wie ein
alter Mensch es weiß. Für Sie ist der Tod eine ferne Vorstellung, etwas, das
irgendwann passieren kann. Für uns ist es etwas, das morgen passieren kann.
Daher verbringen viele alte Menschen die Zeit, die ihnen noch bleibt, damit,
nur in eine Richtung zu blicken: zur Vergangenheit. Nicht, weil ihnen die
Erinnerungen so lieb sind; aber sie wissen, dass sie dort eben das nicht
finden, wovor sie sich am meisten fürchten.
Nur wenige alte Menschen blicken
in die Zukunft, und ich gehöre zu diesen wenigen. Der Blick in die Zukunft
zeigt uns, was sie tatsächlich für uns bereithält: den Tod.«
Paulo schwieg. Er durfte der Frau
nicht erzählen, welches Verhältnis diejenigen, die Magie praktizieren, zum Tode
haben. Sie hätte sofort gemerkt, dass er ein Magier war.
»Deshalb wäre es mir lieb zu
glauben, dass Sie es ernst meinen. Dass es die Engel wirklich gibt«, fuhr sie
fort.
»Der Tod ist ein Engel«, sagte
Paulo. »Ich habe ihn schon zweimal in dieser Inkarnation gesehen, aber nur sehr
kurz, nicht lange genug, um sein Gesicht zu erblicken. Aber ich kenne Menschen,
die ihn schon gesehen haben, und andere, die von ihm fortgetragen wurden und mir später davon erzählt haben. Diese Menschen sagen, dass sein
Antlitz schön ist und seine Berührung sanft.«
Die alte Frau starrte Paulo an.
Sie wollte es nur allzu gern glauben.
»Hat er Flügel?«
»Er besteht aus Licht«, antwortete
er. »Wenn der Augenblick gekommen ist, wird er Ihnen in der Form erscheinen,
die es Ihnen leichtmacht , ihn zu empfangen.«
Die alte Frau schwieg eine Weile.
Dann erhob sie sich.
»Ich habe nun keine Angst mehr.
Ich habe ein stilles Gebet gesprochen und darum gebeten, dass der Todesengel,
wenn er zu mir kommt, Flügel hat. Mein Herz sagt mir, dass mir der Wunsch
erfüllt werden wird.«
Sie küsste beide. Es war jetzt
nicht mehr wichtig zu erfahren, woher sie kamen.
»Mein Engel hat euch geschickt.
Vielen Dank.«
Paulo erinnerte sich an Took . Jetzt waren auch Chris und er Werkzeug eines Engels
gewesen.
A ls die
Sonne unterging, machten sie sich zu dem in der Nähe von Ajo gelegenen Berg auf. Sie setzten sich nach Osten gewandt nieder und warteten
darauf, dass sich der erste Stern zeigte. Denn dann würden sie mit dem Channeling beginnen.
Sie nannten diese Zeremonie »Betrachtung
des Engels«. Es war die erste, die sie geschaffen hatten, nachdem das Ritual,
das die Rituale umstürzt, alle anderen weggefegt hatte.
»Ich habe dich nie gefragt, warum
du deinen Engel unbedingt sehen willst«, sagte Chris, während sie warteten.
»Aber du hast mir doch schon
mehrfach erklärt, dass es für dich keinerlei Bedeutung hat.«
Seine Bemerkung klang ironisch.
Sie ging einfach darüber hinweg.
»Also gut. Aber es ist wichtig für
dich. Erklär mir, wieso!«
»Das habe ich dir doch schon
erklärt. An dem Tag, an dem wir Vahalla getroffen
haben«, antwortete er.
»Du brauchst kein Wunder«, ließ
sie nicht locker. »Geht es dir darum, eine Laune zu befriedigen?«
»In der spirituellen Welt gibt es
keine Launen. Entweder akzeptierst du etwas oder nicht.«
»Na also. Hast du deine Welt etwa
nicht akzeptiert? Oder war alles, was du gesagt hast, gelogen?«
>Sie wird sich an die
Geschichte in der Mine erinnern<, dachte Paulo. Es war schwierig zu
antworten, aber er würde es versuchen.
»Ich habe bereits Wunder gesehen«,
begann er. »Viele Wunder. Wir beide haben sogar schon gemeinsam Wunder gesehen.
Wir haben gesehen, wie J. Löcher in Wolken gemacht, die Dunkelheit mit Licht
erfüllt und Gegenstände verrückt hat.
Du hast schon erlebt, wie ich
Gedanken erraten, Wind hervorgerufen, Rituale der Macht durchgeführt habe. Ich
habe mehrfach in meinem Leben gute oder böse Magie funktionieren sehen. Ich
zweifle nicht daran, dass es Wunder gibt.«
Er machte eine lange Pause.
»Aber wir gewöhnen uns auch an
Wunder. Und wollen mehr davon haben. Der Glaube ist ein schwer zu erringendes
Gut, um dessen Erhalt man täglich kämpfen muss.«
Gleich würde der Stern aufgehen,
Paulo musste seine Erklärung schnell zu Ende bringen. Doch Chris unterbrach
ihn.
»So ist es auch mit unserer Ehe
gewesen«, sagte sie. »Und ich bin erschöpft.«
»Das verstehe ich nicht.
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