Coelho,Paul
den Menschen als sein Werkzeug gebrauchte.
Die Pforten des Paradieses standen jenen offen, die beschlossen hatten hineinzugehen.
Die Welt lag in den Händen derer, die den Mut hatten zu träumen - und ihre
Träume zu leben.
Jeder mit seinem Talent. Jeder mit
seiner besonderen Gabe.
Doch das konnte Paulo letztlich
nicht trösten. Er wusste, dass Took den Engel gesehen
hatte. Dass Vahalla den Engel gesehen hatte. Dass
viele andere Menschen Bücher, Geschichten, Berichte hinterlassen hatten, in
denen sie davon erzählten, wie sie ihren Engel gesehen hatten. Nur ihm gelang
es nicht, seinen Engel zu sehen.
I n sechs
Tagen würden sie die Wüste wieder verlassen und sich auf die Rückreise begeben.
Sie hielten in einer kleinen Stadt namens Ajo , deren
Bevölkerung vor allem aus alten Menschen bestand. Dieser Ort hatte seine beste
Zeit erlebt, als die dortige Eisenmine noch in Betrieb war und den Bewohnern
Arbeitsplätze, Wohlstand und Vertrauen in die Zukunft gegeben hatte. Doch aus
irgendeinem unerfindlichen Grund hatte die Bergwerksgesellschaft die Häuser
der ehemaligen Angestellten verkauft und die Mine geschlossen.
»Jetzt sind auch unsere Kinder
gegangen«, sagte eine Frau, die sich zu ihnen an den Tisch gesetzt hatte. »Nur
die Alten sind zurückgeblieben. Eines Tages wird der Ort verschwinden, und
unsere Arbeit, alles, was wir aufgebaut haben, wird bedeutungslos werden.«
Seit langem war niemand Fremdes
mehr in die Stadt gekommen. Die alte Frau freute sich, jemanden zu haben, mit
dem sie sich unterhalten konnte.
»Der Mensch kommt, baut, hofft,
dass das, was er aufbaut, wichtig ist«, fuhr sie fort. »Aber von einem
Augenblick zum anderen wird ihm klar, dass er mehr verlangt, als die Erde ihm
geben kann. Dann lässt er alles stehen und liegen und zieht weiter, ohne zu
bemerken, dass auch andere an der Verwirklichung seines Traums beteiligt waren
- andere, die, weil sie schwächer sind, am Ende zurückbleiben. Wie die
Geisterstädte in der Wüste.«
>Vielleicht gilt das ja auch
für mich<, dachte Paulo. >Ich selber habe mich hierhergebracht ,
und ich selber habe mich verlassen<. Er erinnerte sich daran, wie ihm einmal
ein Elefantendompteur erzählt hatte, wie man es schaffte, die Tiere in Gefangenschaft
zu halten. Wenn sie noch klein sind, werden sie mit Tauen an einen Pflock
gebunden. Sie versuchen wegzukommen, aber es gelingt ihnen nicht, sie
versuchen es ihre ganze Kindheit hindurch, aber Pflock und Taue sind stärker
als sie.
Dann gewöhnen sie sich an die
Gefangenschaft. Und wenn sie groß und stark sind, braucht der Dompteur sie nur
an einem Bein anzuketten und die Kette irgendwo zu befestigen - ein kleiner
Stein reicht schon -, und sie wagen nicht einmal den Versuch wegzugehen. Sie
sind an die Vergangenheit gekettet.
Die langen Stunden des Tages
schienen nicht enden zu wollen. Die Sonne brannte vom Himmel, die Erde kochte,
und sie mussten warten, warten, warten - bis die Wüste ganz allmählich wieder
die sanften ziegelroten und rosa Farben annahm. Dann war der Augenblick
gekommen, aus dem Ort herauszugehen und sich wieder einmal im Channeling zu üben und ein weiteres Mal auf den Engel zu
warten.
»Jemand hat einmal gesagt, dass
die Erde genug hervorbringt, um die Bedürfnisse zu decken, nicht aber, um die
Gier zu stillen«, fuhr die Alte fort.
»Glauben Sie an Engel?«
Die alte Frau wunderte sich über
die Frage. Aber Engel waren das einzige Thema, über das sich Paulo unterhalten
wollte.
»Wenn man alt ist und dem Tod
näher kommt, beginnt man, an alles zu glauben«, antwortete sie. »Aber ob ich an
Engel glaube, ich weiß nicht recht.«
»Es gibt sie.«
»Haben Sie je einen gesehen?« In
ihrem Blick lag eine Mischung aus Ungläubigkeit und Hoffnung. »Ich spreche mit
meinem Schutzengel.«
»Hat er Flügel?«
Das fragten alle. Er hatte
vergessen, Vahalla danach zu fragen.
»Ich weiß es nicht, ich habe ihn
noch nicht gesehen.«
Die alte Frau blieb eine Weile
nachdenklich am Tisch sitzen. Die Einsamkeit in der Wüste ließ die Menschen
verrückt werden. Oder aber der Mann machte sich zum Zeitvertreib über sie
lustig.
Sie überlegte, ob sie fragen
sollte, woher die beiden kamen, was sie in einem Ort wie Ajo suchten. Sie konnte den merkwürdigen Akzent des Mannes nicht einordnen.
Vielleicht kommen sie ja aus
Mexikos dachte sie. Aber sie sahen nicht wie Mexikaner aus. Sie würde fragen,
wenn sich eine gute Gelegenheit böte.
»Ich weiß ja nicht, ob Sie sich
über mich lustig
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