Coetzee, J. M.
hohlen Ton zurück. Absurde Vorstellung, daß
Florence mich hören würde. Und wenn sie es hörte, warum sollte sie kommen?
Liebe Mutter, dachte ich,
sieh herab auf mich, reich mir deine Hand!
Ich fing an
zu zittern, es durchlief mich von Kopf bis Fuß. Hinter geschlossenen Augen sah
ich meine Mutter, wie sie ist, wenn sie mir erscheint, in ihrer farblosen
Altweiberkleidung, das Gesicht verborgen.
»Komm zu
mir!« flüsterte ich.
Aber sie wollte nicht. Mit
ausgebreiteten Armen begann meine Mutter gen Himmel zu steigen wie ein Habicht.
Höher und höher schwebte sie über mir. Sie erreichte die Schicht der Wolken,
durchstieß sie und segelte dahin. Mit jeder Meile, die sie höher stieg, wurde
sie jünger. Ihr Haar wurde wieder dunkel, ihre Haut frisch. Die alte Kleidung
fiel ab von ihr wie trockenes Laub, und sichtbar wurde das blaue Kleid mit der
Feder im Knopfloch, das sie in meiner frühesten Erinnerung trägt, in der Zeit,
als die Welt jung war und alles möglich.
Weiter schwebte sie, in der
ewigen Vollkommenheit der Jugend, unwandelbar, lächelnd, verzückt, achtlos, bis
an den Rand der himmlischen Sphäre. »Mutter, sieh herab auf mich!« flüsterte
ich in das kahle Badezimmer.
Die
Regenfälle setzten früh ein dieses Jahr. Dies ist der vierte Monat des Regens.
Wo man die Wände berührt, rinnt Dampfwasser ab. Stellenweise wirft sich der
Putz auf und bricht. Meine Kleidung hat einen schweren, muffigen Geruch. Wie
sehne ich mich danach, frische, nach Sonne duftende Unterwäsche anzuziehen,
einmal nur noch! Möge ein Spaziergang mir noch vergönnt sein, an einem
Sommernachmittag, die Avenue entlang, mitten unter den nußbraunen Kindern auf
ihrem Heimweg von der Schule, lachend, kichernd, nach sauberem jungen Schweiß
riechend, die Mädchen jedes Jahr schöner, plus belles. Und wenn das
nicht sein soll, dann sei, bis zuletzt noch, Dankbarkeit, grenzenlose, tief
empfundene Dankbarkeit dafür, daß mir eine kleine Weile in dieser Welt der
Wunder vergönnt worden ist. Ich schreibe diese Worte im Bett sitzend, die Knie
gegen die Augustkälte zusammengepreßt. Dankbarkeit: ich schreibe das
Wort hin und lese es noch einmal. Was bedeutet es? Vor meinen Augen wird es
dicht, dunkel, mysteriös. Dann geschieht etwas. Langsam, wie ein Granatapfel,
birst mein Herz vor Dankbarkeit; wie eine aufplatzende Frucht, um die
Samenkörner der Liebe zu enthüllen. Dankbarkeit, Granatapfel: Geschwisterworte.
Um fünf
heute früh bin ich durch starken Regen wach geworden. Er kam in Strömen
herunter, schoß über die Ränder verstopfter Dachrinnen, tropfte durch
gebrochene Dachziegel. Ich ging nach unten, machte mir Tee und setzte mich, in
eine Decke gewickelt, mit den Monatsrechnungen an den Küchentisch.
Das Tor klickte, und
Schritte kamen die Auffahrt hoch. Eine Gestalt, unter einen schwarzen
Plastiksack geduckt, huschte am Fenster vorbei.
Ich ging
hinaus auf die Veranda. »Mr. Vercueil!« rief ich in den rauschenden Regen.
Keine Antwort. Die Schultern hochziehend, den Morgenmantel um mich zuhaltend,
trat ich nach draußen. Sofort waren meine Hausschuhe mit ihren albernen
lammwollenen Krägelchen durchweicht. Durch Rinnsale von Wasser patschte ich
über den Hof. Im dunklen Eingang des Schuppens stieß ich mit jemandem zusammen:
Vercueil, mit dem Rücken zu mir stehend. Er fluchte.
»Kommen Sie rein!«
überschrie ich den Regen. »Kommen Sie ins Haus! Sie können da schlafen!«
Noch immer den Sack wie
eine Kapuze sich über den Kopf haltend, folgte er mir in die Küche und ins
Licht. »Lassen Sie dieses nasse Ding draußen«, sagte ich. Dann, erschreckt, sah
ich, daß jemand ihm nach drinnen nachgekommen war. Es war eine Frau, klein,
nicht höher als meine Schulter, aber alt oder wenigstens nicht jung, mit einem
lauernden, gedunsenen Gesicht und aschgrauer Haut.
»Wer ist
das?« sagte ich.
Vercueil hielt meinem Blick
stand, gelbäugig, trotzig. Hundemensch! dachte ich.
»Ihr könnt
hier drin warten, bis es aufhört zu regnen, dann aber bitte hinaus«, sagte ich
kalt und kehrte den beiden den Rücken.
Ich wechselte die Kleidung,
schloß mich in meinem Schlafzimmer ein und versuchte zu lesen. Aber die Worte
raschelten an mir vorbei wie Blätter. Leicht überrascht fühlte ich meine
Augenlider sinken, hörte das Buch durch meine Hände rutschen.
Als ich
aufwachte, war mein einziger Gedanke, sie aus dem Haus zu kriegen.
Von der
Frau keine Spur, aber Vercueil schlief im Wohnzimmer, zusammengerollt auf dem
Sofa, die
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