Coetzee, J. M.
auf den Balkon. Es war kalt, ein leichter Regen fiel. »Mr. Vercueil!«
krächzte ich. »Warum bellt der Hund so? Mr. Vercueil!«
Das Bellen
hörte auf, fing wieder an. Vercueil erschien nicht. Ich ging wieder ins Bett
und lag da, unfähig zu schlafen, das Bellen wie Hämmern in den Ohren.
Auf diese Weise stürzen
alte Frauen und brechen sich die Hüfte, warnte ich mich: so wird die Falle
gestellt, und so werden sie gefangen.
Mit beiden
Händen am Geländer mich festhaltend, kroch ich nach unten.
Es war
jemand in der Küche, und es war nicht Vercueil. Wer es auch war, er versuchte
nicht, sich zu verstecken. Mein Gott, dachte ich. Bheki! Es überlief mich kalt.
In dem
gespenstischen Licht, das aus dem Kühlschrank fiel, stand er mir gegenüber, die
Stirn mit der Schußwunde umwickelt mit einem weißen Verband.
»Was willst du?« flüsterte
ich. »Willst du Essen haben?«
Er sprach: »Wo ist Bheki?«
Die Stimme
war tiefer, heiserer als die Bhekis. Wer konnte es dann sein? Benebelt suchte
ich nach einem Namen.
Er machte
die Kühlschranktür zu. Jetzt standen wir im Dunkeln. »Mr. Vercueil!« krächzte
ich. Der Hund bellte ohne Unterlaß. »Die Nachbarn werden kommen«, flüsterte
ich.
Als er an mir vorbeiging,
streifte er meine Schulter. Zurückzuckend roch ich ihn und wußte, wer es war.
Er erreichte die Tür. Das
Bellen wurde wütend.
»Florence ist nicht mehr
hier«, sagte ich. Ich machte das Licht an.
Er trug nicht seine eigene
Kleidung. Oder vielleicht ist das eine Mode. Die Jacke schien einem
ausgewachsenen Mann zu gehören, und die Hose war zu lang. Ein Ärmel der Jacke
war leer.
»Wie geht’s deinem Arm?«
fragte ich.
»Ich darf den Arm nicht
bewegen«, sagte er.
»Komm weg
von der Tür«, sagte ich.
Ich öffnete die Tür einen
Spalt. Der Hund hüpfte aufgeregt. Ich klopfte ihm auf die Nase. »Hör sofort
auf!« befahl ich. Er winselte leise. »Wo ist dein Herr?« Er spitzte die Ohren.
Ich schloß die Tür.
»Was willst du hier?«
fragte ich den Jungen.
»Wo ist
Bheki?«
»Bheki ist tot. Er wurde
letzte Woche getötet, als du im Krankenhaus lagst. Er wurde erschossen. Er
starb sofort. An dem Tag nach der Sache mit dem Fahrrad.«
Er leckte
sich über die Lippen. Er wirkte unsicher, schien in einer Klemme zu stecken.
»Willst du was essen?«
Er schüttelte den Kopf. »Geld.
Ich habe kein Geld«, sagte er. »Für den Bus.«
»Ich werde dir Geld geben.
Aber wo gedenkst du hinzufahren?«
»Ich muß
nach Hause.«
»Tu das nicht, hör auf
mich. Ich weiß, wovon ich rede. Ich hab gesehn, was los ist auf den Fiats.
Bleib da weg, bis die Dinge sich wieder normalisiert haben.«
»Die Dinge werden sich nie
normalisieren – «
»Bitte! Ich kenne das
Argument, aber ich habe weder Zeit noch Interesse, mir das nochmal anzuhören.
Bleib hier, bis die Dinge ruhiger sind. Bleib, bis es dir bessergeht. Warum
bist du weg aus dem Krankenhaus? Bist du entlassen?«
»Ja. Ich
bin entlassen.«
»Wessen
Sachen hast du da an?«
»Das sind meine Sachen.«
»Das sind
nicht deine Sachen. Wo hast du sie her?«
»Es sind meine. Ein Freund
hat sie mir gebracht.«
Er log. Er
log nicht besser als jeder andere Fünfzehnjährige.
»Setz dich.
Ich mach dir was zu essen, dann kannst du ein bißchen schlafen. Warte bis
morgen, bevor du die nächsten Schritte unternimmst.«
Ich machte
Tee. Er setzte sich, ohne mich im geringsten zu beachten. Es war ihm nicht
peinlich, daß ich seine Geschichte nicht glaubte. Was ich glaubte, war
unerheblich. Was dachte er über mich? Wandte er überhaupt einen Gedanken an
mich? War er ein denkender Mensch? Nein: verglichen mit Bheki war er
gedankenlos, dumpf, phantasielos. Aber er lebte, und Bheki war tot. Die
Lebhaften werden weggeputzt, die Schwerfälligen überleben. Bheki schneller, als
ihm guttat. Vor Bheki habe ich mich nie gefürchtet; bei dem hier bin ich mir
nicht so sicher.
Ich setzte ihm ein Sandwich
und eine Tasse Tee vor. »Iß, trink«, sagte ich. Er rührte sich nicht. Mit dem
Kopf auf dem Arm, nach oben gedrehten Augen schlief er fest. Ich tätschelte ihm
die Wange. »Wach auf!« sagte ich. Er fuhr hoch, setzte sich gerade, biß einmal
ab und kaute schnell. Dann wurde das Kauen langsamer. Mit vollem Mund saß er in
einer Starre der Erschöpfung da. Ich nahm ihm das Sandwich aus der Hand und
dachte: Wenn sie in Schwierigkeiten sind, kommen sie zu einer Frau. Zu Florence
kommt er. Nur daß da keine Florence ist. Hat er keine eigene Mutter?
In Florences Zimmer
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