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Coetzee, J. M.

Coetzee, J. M.

Titel: Coetzee, J. M. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eiserne Zeit
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wir alle, als
in ein Loch zu fallen und zu verschwinden.
    Weil ich Vercueil nicht
vertrauen kann, muß ich ihm vertrauen.
    In ungastlichen Zeiten für
die Seele versuche ich, eine Seele am Leben zu erhalten.
    Leicht, den Verwaisten, den
Bedürftigen, den Hungernden Almosen zu geben. Schwerer, den Verbitterten (ich
denke an Florence) Almosen zu geben. Aber am schwersten fallen mir die Almosen,
die ich Vercueil gebe. Was ich gebe, vergibt er mir nicht, gegeben zu haben.
Keine Barmherzigkeit in ihm, keine Vergebung. (Barmherzigkeit? sagte
Verceuil. Vergebung?) Ohne seine Vergebung gebe ich ohne Barmherzigkeit,
diene ich ohne Liebe. Regen, der auf unfruchtbaren Boden fällt.
    In jüngeren Jahren hätte
ich mich ihm vielleicht körperlich hingegeben. Das sind so Sachen, die man
macht, die man machte, wie irrtümlich auch immer. Jetzt lege ich statt dessen
mein Leben in seine Hände. Dies ist mein Leben, diese Worte, diese Spuren von
Bewegungen kritzelnder Finger über das Papier. Diese Worte gehen, wenn Du sie
liest, falls Du sie liest, in Dich ein und holen wieder Luft. Sie sind, wenn Du
so willst, meine Art des Fortlebens. Einst lebtest Du in mir, wie einst ich in
meiner Mutter lebte; so wie sie noch in mir lebt, wie ich zu Dir hinwachse,
möge ich in Dir leben.
    Ich gebe Vercueil mein
Leben, damit er es überbringe. Ich vertraue Vercueil, weil ich Vercueil nicht
vertraue. Ich liebe ihn, weil ich ihn nicht liebe. Weil er das schwache
Schilfrohr ist, stütze ich mich auf ihn.
    Es mag so aussehen, als
verstünde ich, was ich sage, aber glaube mir, ich verstehe es nicht. Von Anfang
an, als ich ihn in seinem Pappkartonhaus hinter der Garage fand, schlafend,
wartend, habe ich nichts verstanden. Ich ertaste meinen Weg durch eine Gasse,
in der es fortwährend dunkler wird. Ich ertaste meinen Weg zu Dir; mit jedem
Wort ertaste ich meinen Weg.
    Vor Tagen
habe ich mir eine Erkältung geholt, die mir jetzt auf die Brust geschlagen ist,
so daß ein trockener, hämmernder Husten mich minutenlang schüttelt und mich
dann keuchend und erschöpft zurückläßt.
    Solange die Bürde eine
Bürde des Schmerzes allein ist, ertrage ich ihn, indem ich ihn auf Distanz
halte. Nicht ich bin es, der Schmerzen hat, sage ich mir: derjenige, der
Schmerzen hat, ist ein anderer, ein anderer, der dieses Bett mit mir teilt.
Durch einen Trick also halte ich ihn ab, halte ich ihn woanders. Und wenn der
Trick nicht funktioniert, wenn der Schmerz darauf besteht, mich zu besitzen,
ertrage ich ihn trotzdem.
    (Ich zweifele nicht, daß
meine Tricks, wenn die Wellen ansteigen, fortgeschwemmt werden wie die Deiche
von Zeeland.)
    Aber jetzt, während dieser
Hustenanfälle, kann ich zu mir selber keine Distanz halten. Es gibt keinen
Geist, es gibt keinen Körper, es gibt nur mich, ein sich herumwerfendes
Geschöpf, nach Luft schnappend, ertrinkend. Terror, und die Schmach des
Terrors! Noch ein Tal, durch das ich hindurch muß auf dem Weg zum Tod. Warum
mir dies? denke ich am Höhepunkt des Anfalls: Ist das fair? Die
Schmach der Naivität. Nicht einmal ein Hund, der mit gebrochenem Rücken am
Straßenrand sein Leben aushaucht, würde denken: Aber ist das fair?
    Zu leben, sagte Marcus
Aurelius, erfordert die Kunst des Ringers, nicht des Tänzers. Auf den Beinen zu
bleiben, ist alles; zierliche Schritte sind nicht nötig.
    Gestern,
die Speisekammer war leer, mußte ich einkaufen gehen. Mit meinen Taschen mich
heimschleppend, hatte ich einen schlimmen Anfall. Drei Schuljungen blieben
stehen, um die alte Frau anzustarren, die an einen Laternenpfahl gestützt
dastand, mit ihren Lebensmitteln um ihre Füße verstreut. Zwischen Hustenstößen
versuchte ich, sie wegzuwinken. Wie ich ausgesehen habe, kann ich mir nicht
vorstellen. Eine Frau in einem Auto hielt an. »Sind Sie in Ordnung?« rief sie.
»Ich war einkaufen«, keuchte ich. »Was?« sagte sie, die Brauen runzelnd,
angestrengt lauschend. »Nichts!« japste ich. Sie fuhr davon.
    Wie häßlich
wir davon werden, daß wir unfähig sind, gut von uns zu denken! Sogar die
Schönheitsköniginnen sehen gereizt aus. Häßlichkeit: was ist sie anderes als
die Seele, die sich durch das Fleisch zeigt?
    Dann, letzte Nacht, geschah
das Schlimmste. In die Verworrenheit meines pillenrauschigen, unguten
Schlummers drang das Geräusch von Gebell. Weiter und weiter ging es, stetig,
unablässig, mechanisch. Warum machte Vercueil dem kein Ende?
    Ich traute
mich nicht die Treppe hinunter. Im Bademantel und in Hausschuhen ging ich
hinaus

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