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Cold Fury: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Cold Fury: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Titel: Cold Fury: Roman (Heyne fliegt) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. M. Goeglein
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völlige Schwärze oder die Spinnweben, die sich wie eine zweite Haut über mein Gesicht legten, und auch nicht das Blut, das über meine Lippen rann und das ich nicht wegwischen konnte, weil es in diesem winzigen Raum so eng war, dass ich nicht einmal den Arm heben konnte. All das gab mir noch nicht den Rest.
    Richtig übel war das mit den Ratten.
    So eingeklemmt zwischen Mauersteinen und Mörtel konnte ich mich nicht bücken.
    Übel war, dass ich so gern ihr strubbliges Fell und ihre nackten Schwänze gestreichelt und sie liebevoll hinter den dreieckigen Öhrchen gekrault hätte, weil sie mir gerade den Arsch gerettet hatten.
    Eine Stunde lang stand ich so da, in einem winzigen Spalt zwischen zwei Mauern. Offenbar hatte man irgendwann nach dem Einbau der Capone-Tür neben der Bahnstation ein weiteres Gebäude errichtet und damit den früheren Fluchtweg blockiert. Ein paar Dutzend Ratten wuselten quiekend und raschelnd über meine Füße. Hin und wieder fühlte ich eine kalte Nase, die an meinem Knöchel schnupperte. Eins der Tiere knabberte probeweise an meinem kleinen Zeh, und ein anderes quiekte, und dann ging die ganze Arie von vorn los – quiek, raschel, schnupper, knabber – hundert Jahre lang, wie mir schien.
    Es war so eng, dass ich meinen eigenen blutgeschwängerten Atem riechen konnte.
    Durch die dicken Schichten alter Mauern hörte ich die Hochbahnzüge über mir hinwegdonnern.
    Eine halbe Stunde lang hörte ich zudem, wie mein Verfolger in seiner ekligen Skimaske vor der Tür herumschnüffelte und herauszufinden versuchte, wohin ich (und das Rudel Ratten) verschwunden sein konnte – in einem Bahnhofsschaltraum, der keine Fenster und nur die eine Tür hatte, durch die er selbst hinter mir hergerannt war, während er noch die Ratten von seinen Schultern fegte. Er stieß Kartons um und klopfte mit der Faust an die Decke, ging auf alle Viere und tastete den dreckigen Fliesenboden ab, während er mit seiner Kleinmädchenstimme unaufhörlich hässlich fluchte. Als er damit fertig war, setzte er sich hin, verschränkte die Arme und wartete darauf, dass ich wieder auftauchte. Obwohl uns eine Wand trennte, drang der übelkeitserregende, komische Schweinefleischgeruch, den er verströmte, zu mir durch.
    Durch ein kleines Loch im Mörtel sah ich seine Füße ungeduldig hin und her wippen.
    Die Ratten krabbelten aufgeregt zwischen meinen Füßen herum.
    Sie waren so nervös und kribblig wie ich.
    Noch eine halbe Stunde blieb ich bewegungslos stehen. Ich wollte auf keinen Fall riskieren, dass er mich entdeckte; nicht nach dem Ausdruck, den ich in seinen Augen gesehen hatte, als ich ihm die Nase brach. Irgendwann stieß er seinen Stuhl um und verschwand aus dem Schaltraum. Kaum war er weg, liefen auch die Ratten davon.
    Sie verschwanden wie ein Grüppchen stiller, kleiner Geister.
    Ich hatte nicht einmal die Möglichkeit, mich bei ihnen zu bedanken.
    Schließlich traute ich mich aus meiner Mauernische heraus, blutig und staubbedeckt, aber mit einer Erkenntnis: Solange ich nicht begriff, warum ich eigentlich auf der Flucht war, würde ich immer weiter blindlings davonlaufen müssen. Natürlich wollte ich meine Familie wiederfinden, aber was auch immer mit ihr passiert war, es war wegen des Notizbuchs passiert. Nun war es an der Zeit, die Geheimnisse zu erkunden, die auf den vergilbten Seiten standen, und sie zu meinem Vorteil zu nutzen. Denn eins hatte meine Mom mir unauslöschlich eingebläut: Wissen ist Macht.
    Aber um das zu tun, musste ich weg von der Straße.
    Ich musste mich irgendwo verstecken und lesen.
    Aus der Liste sicherer Orte wählte ich ein Apartment im 91. Stock des Hancock Centers. Es war wie ein Glaskasten oben im Himmel, unter dem sich der Michigan-See erstreckte, als ob die ganze Welt unter kaltem, blauen Wasser läge. Ich schloss mich ein und begann, mich mit dem Notizbuch zu beschäftigen, aber Donnerstagmorgen meldete sich mein Paranoiaalarm erneut, und ich zog um in ein altes Backsteinlagerhaus, das von Efeu und Unkraut überwachsen zwischen ausgeweideten Autos lag und von rostigem Stacheldraht umzäunt wurde. Die Fenster waren vergittert, und die Schiebetür am Eingang bestand aus einer riesigen Eisenplatte, die man arretieren konnte, indem man eine Metallstange in einem Loch im Zementboden versenkte. Mein luftiger Ausguck im Hancock Center war sehr schön gewesen, aber ich brauchte ein verlässliches Gefühl von Sicherheit, wie es dicke Mauern und schwere Metallplatten vermittelten. Das

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