Colin Cotterill
müssen sich für den Arbeitseinsatz stärken.«
»Gibt es eigentlich keine Strafgefangenen mehr? Früher waren die für so etwas zuständig. Gräben ausheben, Abwasserkanäle reinigen.«
»Ich muss mich doch sehr wundern, Dr. Siri. Manchmal frage ich mich, ob Sie wirklich für die Revolution gekämpft haben. Es gibt keine Entschuldigung mehr dafür, unsere Drecksarbeit von den Ungebildeten und Unwissenden erledigen zu lassen. Eine Spitzhacke oder Axt schwingen kann schließlich jeder.«
»Und eine krebskranke Leber sezieren?«, murmelte er unter der Decke.
»Ist ein Genosse auf kriminel e Abwege geraten, wird er zur Umerziehung auf die Inseln geschickt. Das wissen Sie doch.
Also. Stehen Sie freiwil ig auf, oder muss ich Gewalt anwenden?«
Er beschloss, sie für ihre unangemessene Vertraulichkeit zu bestrafen.
»Nein. Ich stehe auf. Aber ich muss Sie warnen, ich bin nackt und habe eine Morgenerektion. Das hat nichts mit Sex zu tun. Die Blase drückt auf…«
Ein leises Klicken war zu hören, gefolgt vom Poltern der losen Dielen auf der Galerie. Er schlug die Decke zurück und blickte sich triumphierend im leeren Zimmer um.
Als er nach unten ging, standen dort zwei Lastwagen, beladen mit ebenso verschlafenen wie schweigsamen Nachbarn, die sich vor Begeisterung fast überschlugen. Der Bereich 29 C stel te die Arbeitskräfte für die Bewässerungskanalsektion 189. Der Einsatz würde fast den ganzen Tag in Anspruch nehmen, dafür gab es ein kostenloses Mittagessen, bestehend aus Klebreis, Salzfisch und Tamnin-Efeu.
Er wehrte Saloops lethargische Attacke ab und kletterte auf den hinteren Laster. Er hatte Fräulein Vong auf dem vorderen Wagen entdeckt, wo sie dem jungen Pärchen aus dem Zimmer gegenüber eine Gardinenpredigt hielt. Er nickte und scherzte mit seinen Nachbarn, als sich der Konvoi in Bewegung setzte. Sie nickten und scherzten zurück. Aber echt war diese gute Laune nicht.
Obwohl er sich der Kommunistischen Partei aus höchst zweifelhaften Gründen angeschlossen hatte, war Siri seit siebenundvierzig Jahren zahlendes Mitglied. Dabei war er ein zutiefst ungläubiger Kommunist. Er vertrat vielmehr zwei widersprüchliche Theorien: dass der Kommunismus die einzige Lebensform sei, die dem Menschen Glück und Zufriedenheit verschaffe; und dass der Mensch den Kommunismus auf Grund seiner egoistischen Natur nie mit Erfolg würde praktizieren können. Woraus logischerweise folgte, dass der Mensch nie glücklich und zufrieden werden konnte. Die Geschichte, und mit ihr eine schier endlose Reihe verbitterter politischer Idealisten, schien ihm recht zu geben.
Nach einem langen und beschwerlichen Weg durch das französische Bildungssystem, ein wild wucherndes Dickicht von Restriktionen gegen die Armen, hatte er schließlich und endlich den Beweis erbracht, dass es auch ein armer Junge vom Land zu etwas bringen konnte. Nach ausgiebiger Suche fand er einen solventen französischen Gönner, der ihn nach Paris schickte.
Dort wurde er ein zwar kompetenter, aber keineswegs bril anter Medizinstudent. Frankreich war nicht eben berühmt dafür, jenen bedauernswerten Kreaturen, die außerhalb der Landesgrenzen zur Welt gekommen waren, das Leben zu erleichtern. Hier war jeder komme auf sich selbst gestel t.
Aber Siri war ein geübter Kämpfer. Da er sich durch nichts ablenken ließ, gehörte er in seinen ersten beiden Jahren in Ancienne zum oberen Drittel seines Jahrgangs. Seine Dozenten waren sich einig, dass er vielversprechende Ansätze zeige - »für einen Asiaten«. Doch dann erkannte er, wie schon manch anderer brave Mann vor ihm, dass al es Potential der Welt buchstäblich nichts war gegen schöne Brüste. Im dritten Jahr saß er im Pathologiekurs und konzentrierte sich nicht etwa auf die riesige, mit Zeichnungen und Diagrammen bedeckte Tafel, sondern auf die Wölbungen unter Bouas Pul over. Boua war eine rotwangige laotische Pflegeschülerin, die bei jedem Wetter am Fenster saß. An ihrem Pul over ließ sich hervorragend ablesen, wie kalt es draußen war. Im Sommer wölbte sich statt seiner eine Bluse, an der eindeutig mehr Knöpfe als nötig offen standen. Siri schaffte es mit Ach und Krach durch die Pathologie und stürzte vom oberen Drittel ins untere Fünftel ab.
Im vierten Jahr waren Boua und er verlobt und teilten sich ein Zimmer, das so klein war, dass sie das Bett hatten absägen müssen, weil sich die Tür sonst nicht öffnen ließ. Sie war eine kerngesunde, kurvenreiche junge Frau aus Laos’ alter
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