Colin Cotterill
seinem Schreibtisch.
Dtui blickte von ihrem thailändischen Fanmagazin auf.
»Wohlsein, Doktor.« Sie war eine grundsolide junge Krankenschwester mit stets frisch gewaschenem, aber reichlich zerfurchtem Gesicht und fröhlichem Mund. Sie reagierte auf al es mit einem Lächeln, und es gab weiß Gott nicht viel zu lächeln.
»Das Ministerium für Information und Kultur wäre bestimmt nicht sonderlich erfreut, wenn es wüsste, dass Sie diese bourgeoisen Perversitäten lesen.«
Sie grinste über die Bemerkung des Doktors. »Ich vergewissere mich lediglich der Widerwärtigkeit des Klassenfeindes, Genosse.« Sie hielt ein schlechtes, im bil igen Dreifarbdruck hergestel tes Foto hoch; es zeigte einen thailändischen Fern-sehstar im Minirock. »Oder glauben Sie im Ernst, ich würde so etwas anziehen?«
Siri lächelte in sich hinein und runzelte die Stirn, als sein Blick auf einen Mann in der Ecke fiel, der sich sanft hin und her wiegte. »Ah, guten Morgen, Herr Geung.«
Als er seinen Namen hörte, hob der Mann lächelnd den Kopf. »Guten Morgen, Dr. Genosse. Es… es sol wieder furchtbar heiß werden heute.« Er bekräftigte seine Bemerkung mit einem Nicken.
»Ja, Herr Geung. Das glaube ich auch. Irgendwelche Kundschaft?«
Geung lachte wie jeden Morgen über Siris Scherz. »Nein, heute keine Kundschaft, Dr. Genosse.«
Das war al es. Das Team, das er geerbt hatte, der Posten, der ihm nicht behagte, das Leben, das ganz und gar nicht seinen Vorstel ungen entsprach.
Seit fast einem Jahr bekleidete er das Amt des ersten und einzigen Leichenbeschauers des Landes. Dabei räumte er freimütig ein, dass ihm sowohl die Qualifikation als auch die nötige Begeisterung für diese Arbeit fehlte.
Die ersten vier Wochen seiner »Ausbildung« waren ein Witz gewesen. Der einzige laotische Arzt, der wusste, wie man eine Obduktion durchführte, hatte lange vor Siris Amtsantritt den Fluss überquert, angeblich in einem Reifenschlauch. Folglich gab es, abgesehen von Herrn Geung, der sich als Assistent besagten Arztes umfassende, wenngleich wohlgehütete Kenntnisse angeeignet hatte, niemanden, der Siri einarbeiten konnte.
Und so hatte er seine Pensionierung schweren Herzens aufgeschoben und sich mit Hilfe zweier schon leicht angesengter französischer Lehrbücher darangemacht, sein Handwerk zu erlernen. In einer verlassenen Schule der Amerikaner besorgte er sich einen Notenständer, damit die Bücher nicht zuklappten, während er seinen ersten Patienten mit dem Skalpel zu Leibe rückte. Ein Auge auf den Notenständer gerichtet, sezierte er wie ein Konzertpathologe, der auf den Innereien seiner Leichen spielt. »Umblättern«, sagte er, und Dtui blätterte die Seite um. Er hielt sich streng an die Anweisungen der französischen Kol egen aus dem Jahre 1948.
Zwar war er lange als Feldchirurg tätig gewesen, doch zwischen der ärztlichen Versorgung Lebender und der Untersuchung von Verstorbenen klaffte ein himmelweiter Unterschied. Befunde mussten gesichert, Tests durchgeführt werden. Er hatte nicht damit gerechnet, mit zweiundsiebzig noch einen neuen Beruf erlernen zu müssen. Als er am 23. November 1975 mit den siegreichen Pathet Lao in Vientiane einmarschiert war, hatte er sich seine Zukunft weitaus angenehmer vorgestel t.
Der historische Parteitag am 5. Dezember hatte das Land in einen Taumel der Begeisterung gestürzt. Die Feierlichkeiten ertranken förmlich in einer Flut von frisch gebranntem laotischen Reisschnaps. Al enthalben sah man zarte Wangen gezeichnet von beherzten Bruderküssen.
Der Kronprinz hatte mit dunklem Anzug und düsterer Miene die Abdankungserklärung seines Vaters verlesen und es selbstredend abgelehnt, an den Festlichkeiten teilzunehmen. Nach Jahrzehnten im Untergrund war es den aufständischen Pathet Lao schließlich gelungen, die Herrschaft an sich zu reißen. Aus dem Königreich war eine Republik geworden, ein Traum, den viele der alten Soldaten insgeheim längst aufgegeben hatten.
Ihren Gewohnheiten entsprechend räumten die Dschungelkämpfer die Tische aus dem Bankettsaal und legten ihn mit Strohmatten aus. Dort saßen sie in Kreisen beisammen und genossen ihren Sieg. Hübsche junge Parteikader mit grel geschminkten Lippen und grünen Uniformen servierten bis spät in die Nacht Speisen und Getränke.
Im Laufe seines langen Lebens hatte Siri wahrscheinlich häufiger im Schneidersitz auf dem Fußboden gesessen als auf einem Stuhl. Auch er war an diesem Tag in Hochstimmung, wenngleich aus anderen Gründen
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