Colin Cotterill
und Phosy keine Familien hatten, schlug der Inspektor vor, anderswo weiterzutrinken.
»Ähm. Ich kann leider nicht.«
»Was sol das heißen?«
»Ich habe heute Abend eine… Verabredung.«
Civilai tanzte jauchzend auf und ab. »Doch nicht etwa mit einer reizenden kleinen Bäckerin?«
»Nur zum Essen.«
»Und die Tet-Offensive war bloß ein unbedeutendes Scharmützel. Ich hoffe, du weißt noch, wie es geht.«
»Sei nicht so ordinär. Wir gehen zusammen essen. Trotzdem bin ich ein bisschen nervös.«
»Keine Sorge. Ich wette, sie macht den ersten Schritt.«
Phosy öffnete die Aktentasche, die neben ihm gestanden hatte, und holte eine dicke Akte daraus hervor.
»Dann gebe ich Ihnen das lieber gleich, für al e Fäl e.«
»Was ist das?«
»Das sind Sie.«
»Ich?«
»Wir haben die Geheimakten gefunden, die Genosse K und seine Bande von al en ranghohen Parteimitgliedern angelegt hatten. Wir wussten nicht genau, wohin damit. Ihr Richter meinte, wir sol ten sie den Betroffenen übergeben.
Damit sie selbst entscheiden können. Er sagte: ›Der Sozialismus ist ein großer Kosmos, aber Vertrauen ist die Atmosphäre, welche die Sterne zusammenhält.‹«
»Trotz dieser Losung scheint Richter Haeng al mählich so etwas wie gesunden Menschenverstand zu entwickeln«, sagte Siri.
»Ich glaube, das verstehe ich nicht«, sagte Phosy.
»Da sind Sie nicht der Einzige. Kann ich mir Ihre Tasche leihen? Sonst hebe ich mir am Ende noch einen Bruch.«
24
DAS DICKE ENDE
Siri wohnte vorübergehend in einem Gästehaus unweit des Anusawari-Tors.
Es war freundlich, sauber und gepflegt, und er wäre am liebsten dort geblieben. Doch zum Dank für seine Heldentaten hatte man seinen Namen ganz oben auf die Warteliste gesetzt: In spätestens vier Wochen sol te er ein eigenes Haus bekommen. Nie wieder würde er Tür, Flur oder Badezimmer mit anderen Leuten teilen müssen. Es klang nach Einsamkeit.
Bis zu seinem Rendezvous blieben ihm noch zwei Stunden Zeit, sich auszuruhen und ein Bad zu nehmen. Da er nur eine Garnitur Kleidung zum Wechseln hatte, brauchte er sich keine Gedanken darüber zu machen, was er anziehen sol te. Lächelnd sank er aufs Bett. Phosys Tasche stand neben ihm.
Er öffnete sie und holte die streng geheime Akte daraus hervor. Seine Biografie war fast zehn Zentimeter dick.
Sie würde ihm in den kommenden vier Wochen eine unterhaltsame Lektüre bieten. Er blätterte sie durch; maschinengeschriebene Seiten, hastig hingeworfene Notizen (»Dr. Siri hat den stel vertretenden Kommandanten soeben einen Esel genannt«), Fotos, Zeitungsartikel, Berichte. Und dann, in diesem Wust von Unterlagen, mit Stempel vom 9.6.1965, ein aus einem alten Schulheft herausgerissenes Blatt Papier. Die Schrift war ihm so vertraut wie seine eigene. Die Konsonanten waren riesig; die Vokale schwebten wie Luftbal ons um sie herum. Es war Bouas Schrift.
Sein Herz verkrampfte sich, als er las:
Mein liebster Siri,
was ist nur mit mir los? Ich kann es Dir nicht erklären. Warum habe ich al das Schöne, was wir hatten, kaputtgemacht? Warum kann ich Dir Liebe und Geduld nur noch mit Zorn vergelten? Warum bringe ich die Worte, die uns früher so selbstverständlich erschienen, nicht mehr über die Lippen?
Ich habe keine Gewalt über die Depression. Sie legt sich wie eine Schlingpflanze um mich und raubt mir die Luft zum Atmen. Die Krankheit verengt meine Sicht auf die Dinge. Ich sehe nur noch das Scheitern unseres politischen Kampfes, dabei gab es doch sicher auch Erfolge. Ich sehe mich nur noch von egoistischen und korrupten Parteibonzen umgeben, obwohl ich weiß, dass nicht al es schlecht sein kann. Vor al em aber sehe ich nur noch einen Mann, dessen Gegenwart ich kaum ertrage, weil er mich in einem fort an die hübsche, hoffnungsfrohe junge Frau erinnert, die bei einer der unzähligen Dschungelwanderungen ohne Ziel verschüttgegangen ist.
Trotzdem weiß ich, dass mein Leben ohne Dich nichts gewesen wäre.
Wirst Du mir je verzeihen können, was ich Dir angetan habe und was ich heute Abend tun muss? Es ist der einzige Ausweg für uns beide.
Meiner größten und einzigen Liebe,
Boua
Auf der Rückseite hatte jemand handschriftlich »NICHT WEITERLEITEN -
NEGATIV« notiert.
Sie hatten ihren Abschiedsbrief gefunden. Sie hatten den Schlüssel gefunden, mit dem er sich von den Zweifeln und Schuldgefühlen hätte befreien können, die ihn seit elf langen Jahren plagten. Und sie hatten ihm diesen Schlüssel vorenthalten, weil er »negativ«
Weitere Kostenlose Bücher