Collector’s Pack
Zeit in einem Heim, als er jede Nacht weinte und seinen Zwillingsbruder vermisste. Die Erinnerung aber auch an einen Mann namens Raymond Creutzfeldt, der ihm schließlich das Licht brachte. Der Name Creutzfeldt war nur ein notwendiges Etikett für den Meister. Sein wahrer Name war Seth. Er hatte den Hass und den Schmerz in den blassen Jungen aus dem Heim gepflanzt und ihn zu einem Werkzeug des Lichts gemacht.
Nikolas erinnerte sich nicht an seine Jugend. Wo andere über eine wild wuchernde Wiese blickten, die nach Verheißung und Abenteuer duftete, dehnte sich vor Nikolas nur gleißend helles Ödland aus, flirrend hinter einem Vorhang aus Hitze und Hass. Irgendwann hatte Seth ihm seinen ersten Auftrag erteilt. Dann den nächsten. Und dann viele weitere. Nikolas wusste nicht mehr, wie viele Menschen er getötet hatte. Hunderte vielleicht, überall auf der Welt. Er hatte ihnen allen mitleidlos und schmerzvoll den Tod gebracht, nur, um dem Meister zu gefallen.
Seit seiner ersten Begegnung mit Peter jedoch bekam der flirrende Vorhang, der seine Erinnerungen bislang verborgen hatte, zunehmend Flecken, wurde rissig, und durch diese Risse sickerte etwas für Nikolas völlig Fremdes: Zweifel.
Nikolas hatte dem Meister natürlich gemeldet, dass er Peter spüren könne. Der Meister, der sich noch immer transformierte, hatte ihm durch Petrus ausrichten lassen, er solle versuchen, Kontakt zu Peter aufzunehmen und ihn so bald wie möglich nach Rom bringen.
Das war der Plan. Der Plan, Peter entweder zu töten oder zu dem zu machen, was Nikolas längst war: ein Werkzeug des Lichts.
Eine fiebrige Unruhe hatte Nikolas befallen, die mit jedem tatenlosen Tag noch wuchs. Der Zweifel durchweichte ihn wie ein schleichendes Gift, und Nikolas wurde immer klarer, dass der Meister ihm eine Kindheit geraubt und durch eine Lüge ersetzt hatte. Diese Erkenntnis erfüllte ihn mit mehr Schmerz und Ratlosigkeit, als der Meister ihn je hatte aushalten lassen, um ihn zu prüfen. Und weil Nikolas nichts anderes kannte, um die Ordnung wiederherzustellen, als den Tod, hatte er dort oben an der Spitze des Südturms des Kölner Doms sterben wollen.
Irgendetwas, nicht nur die hohen Gitter, hatte ihn davon abgehalten, als er nach unten auf die Domplatte starrte, wo sich Menschengruppen zusammenballten und auflösten. Irgendetwas hatte ihn zurückschrecken lassen und ihn die steile Treppe hinabgetrieben. Würgend vor Verzweiflung und Selbsthass stolperte er schließlich aus dem tiefer gelegenen Zugangsbereich für die Turmbesteigung und taumelte auf die weitläufige Domplatte. Starker Wind schlug ihm entgegen, als er ins Freie trat. Eine Gruppe gutgelaunter russischer Jugendlicher umsegelte den blassen Mann mit der Sonnenbrille lachend. Auf der gegenüberliegenden Seite des Domplatzes spielten Straßenmusiker. Ein Mann zeichnete die Mona Lisa mit Kreide auf die Steinplatten, und eine Gruppe Friedensaktivisten stemmte tapfer ein großes Transparent in den Wind. Nikolas lavierte an Menschen vorbei, die ihre Fotoapparate nach oben gegen die gotische Fassade reckten, und ließ sich auf eine Steinbank am Rand des Platzes fallen, unfähig, die übermächtige Ratlosigkeit abzuschütteln.
Bis er den Engel sah.
In Nikolas’ Blick lag das Hauptportal des Kölner Doms, unter dem das Böse schlief und darauf wartete, von ihm geweckt zu werden. Zwischen dem Portal und der Steinbank standen drei lebende Bilder. Schausteller, die sich als Römer, Charlie Chaplin und als bronzebesprühter König verkleidet hatten und regungslos auf kleinen Podesten standen. Hin und wieder änderten sie ihre Pose, winkten Kindern zu oder ließen sich mit Touristen fotografieren. Eines der Podeste war noch unbesetzt. Als Nikolas gerade aufstehen wollte, kam der Engel an ihm vorbei, streifte ihn kurz mit einem Flügel und bestieg das Podest. Eine junge Frau ganz in Weiß, die offenbar hinter ihm Pause gemacht hatte. Nikolas konnte ihren Zigarettenatem noch riechen, als sie an ihm vorbeiging. Sie trug ein billiges weißes Taftkleid aus dem Karnevalsfundus, und darunter ein schmutzig weißes Rollkragen-T-Shirt. Ihr Gesicht war weiß geschminkt, sie trug eine alte weiße Perücke, unter der eine widerspenstige schwarze Haarsträhne herausschaute, und darüber einen lächerlichen aufgesteckten weißen Heiligenschein. Ebenso lächerlich wie die zerrupften weißen Flügel auf ihrem Rücken. Alles an ihr wirkte armselig. Bis auf ihre Haltung. Als sie das Podest erreicht hatte, breitete sie
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