Collector’s Pack
hastig, wie bei einer heimlichen Pause erwischt. Die Welt roch nach Weihrauch und Blut. Peter sah, dass er nicht mehr im Klostergarten stand sondern im Altarraum einer kleinen Kapelle. Es war kühl hier drinnen. Aus einer kleinen Fensterrosette fiel helles Tageslicht auf den Boden und bildete dort den Schatten eines Pentagramms. Peter bemerkte es im ersten Moment nur am Rande. Was er allerdings bemerkte, war das Blut. Viel Blut. Blut auf dem Altar, an den Wänden aus groben Granitblöcken und als kleiner See zu seinen Füßen. Zuviel Blut.
Und dann sah Peter die Gestalt vor sich. Ein Mann. Auch er voller Blut. Er schien mit ausgebreiteten Armen kopfüber an der Wand zu schweben. Aber er schwebte nicht, denn als nächstes erkannte Peter die großen Nägeln, mit denen man den Mann an Händen und Füßen an die Rückseite der großen Altarkruzifixes gekreuzigt hatte.
Jemand berührte ihn. Peter zuckte zusammen und blickte in ein vertrautes Gesicht.
»Kommen Sie, Nikolas, wir müssen hier weg«, sagte Urs Bühler. »...Nikolas!«
Peter würgte etwas Speichel hervor, um sprechen zu können.
»Wo... bin ich?«
Der ehemalige Kommandant der Schweizergarde packte ihn und sah ihm in die Augen.
»Ach, du Scheiße. Nicht schon wieder!« stöhnte er. »Sind Sie's wieder, Peter?«
»Wo bin ich?«
»Im Kloster Santa María de la Real, nicht weit von Santiago de Compostela. Und wir müssen jetzt verdammt nochmal von hier verschwinden.«
XXVII
ZWEI WOCHEN VOR DER APOKALYPSE
21. Juni 2011, Köln
N ikolas hastete die fünfhundertdreiunddreißig Stufen der engen Wendeltreppe so schnell hinunter, dass ihm schwindelig wurde, und stieß die Touristen, die ihm schnaufend von unten entgegenkamen, rüde beiseite. Von hoch oben, aus dem Glockenturm des Doms, kehrte er zurück zur Erde wie ein gefallener Engel, verzweifelt und zornig. Siebenundneunzig Meter. Die Stufen schmal, in der Mitte ausgetreten, die Wände beschmiert von kleinen Graffitis, Jahreszahlen und Grüßen in allen Sprachen der Welt. Nikolas nahm sie gar nicht wahr, rannte nur weiter die Stufen hinab, vertrieben, gejagt, abgewiesen. Nicht von dem Gott, dem dieser Dom geweiht war, sondern von sich selbst, und schlimmer noch: vom Licht. Nikolas rempelte sich seinen Weg nach unten frei, um die Erinnerungen und die Zweifel abzuhängen, die seit Tagen unauslöschbar hinter ihm herwehten wie eine Rauchfahne. Er wusste noch nicht einmal mehr, was er dort oben im Turm des Doms eigentlich gesucht hatte. Erkenntnis etwa? Oder Vergessen? Vielleicht hatte ihn auch nur die Langeweile der vergangenen Wochen die enge Wendeltreppe hinaufgetrieben. Als er jedoch oben von der vergitterten Aussichtsplattform an der gotischen Fassade hinabgestarrt hatte, war ihm klar geworden, dass er sterben wollte. Endlich sterben. Die Erkenntnis traf ihn unvorbereitet, während er von nachfolgenden Touristen hin und her geschubst wurde. Am liebsten hätte er sich im gleichen Augenblick vom Turm gestürzt und es gewiss auch getan, wenn es nur irgendeine Möglichkeit dazu gegeben hätte.
Nach den Ereignissen in Rom hatte er als Erstes den schwer verletzten Meister zurück in die Zentrale nach Nepal gebracht und dort umgehend die Transformation eingeleitet. Rom war kein vollständiger Rückschlag gewesen, der Plan des Lichts konnte weitergeführt werden, aber es gab Verzögerungen. Nachdem die Transformation abgeschlossen war und in Rom der neue Papst gewählt worden war, hatte Nikolas den Auftrag erhalten, nach Köln zu reisen, wo laut Plan die nächste Pforte geöffnet werden sollte. Das Problem war nur die Liste. Weder Seth noch Petrus II. wussten, wer das Siegel zur Pforte in Köln verwahrte. Offenbar war die Liste unvollständig. Während Petrus in Rom also alles daransetzte, in den Besitz der vollständigen Namensliste zu gelangen, sollte Nikolas in Köln warten, um die Person zum gegebenen Zeitpunkt zu finden und zu töten.
Seitdem waren Wochen vergangen, die Nikolas in einem anonymen Apartment in einem Hochhausblock mit Rhein- und Domblick verbracht hatte. Er war inzwischen sicher, dass Peter überlebt hatte. Das Signal war schwach, aber konstant, Nikolas spürte es nur in Momenten der Stille, wenn er alle anderen Gedanken ausschaltete. Aber er war sicher, dass sein Bruder lebte, irgendwo. Das freute und beunruhigte ihn zugleich.
Mit den Gedanken an Peter stellten sich quälende, verschüttete Erinnerungen ein. An seine Mutter, die mit brennenden Haaren vor einem Leuchtturm stand. An eine
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