Collector’s Pack
die Arme aus, legte den Kopf ein wenig zur Seite und erstarrte. Sie bewegte sich auch nicht, als Kinder sie umringten und ihr etwas zuriefen, sie winkte nicht und sie nahm niemanden in den Arm für ein Foto. Sie stand einfach nur da, in der Geste der Erlösung und dem Ausdruck schmerzlicher Trauer.
Nikolas starrte sie eine Weile erschüttert an, unfähig, den Blick von der Engelsgestalt abzuwenden, die ihm irgendetwas zu sagen schien. Schließlich erhob er sich und trat näher, um ihr Gesicht zu sehen. Sie schien ihn gar nicht zu bemerken, als er dicht vor ihr stand und ihre schlecht gepuderte Haut betrachtete, die müden Augen, den großen, weichen Mund und die gerade, nordische Nase, die Entschlossenheit und Strenge verriet. Nikolas schätzte sie auf Ende zwanzig, als er mit etwas Abstand um sie herumging. Dass sie ihn endlich wahrnahm, schloss er aus der misstrauischen Falte, die sich zwischen ihren Augen bildete. Nikolas legte einen Zehn-Euro-Schein in die Dose zu ihren Füßen und betrachtete sie weiter. Erst als Charlie Chaplin und der römische Legionär auf ihn aufmerksam wurden und ihm misstrauische Blicke zuwarfen, drehte er sich um und tauchte in der Menge unter. Er ging zurück in sein tristes Hochhausapartment am Rhein, und dort versuchte er, seine Erschütterung einzuordnen. Erst mitten in der Nacht, als er immer noch schlaflos auf seinem Bett lag, wurde ihm klar, was passiert war.
Dass sich mit einem Schlag alles verändert hatte.
Dass es einen Weg aus der Verzweiflung gab.
Dass er verliebt war.
Die nächsten Tage verbrachte er auf der Domplatte, aber erst am dritten Tag war der Engel wieder da. Nikolas stellte Vermutungen an, was sie wohl in der Zwischenzeit machte, vermied es aber, ihr zu folgen. Abends wurden die vier lebenden Bilder von einem Van abgeholt. Nikolas hielt meist Abstand, betrachtete die Frau aus der Entfernung. Nur hin und wieder schlenderte er wie zufällig an ihr vorbei, legte ihr mal zehn, mal zwanzig Euro in die Dose, um sie dafür zu betrachten, und verschwand wieder, sobald Charlie Chaplin und der Legionär ihn bemerkten. Er fand heraus, wo sie zwischendurch ihre Rauchpause machte und hielt sich dann in der Nähe auf.
Am zehnten Tag, an dem sie eigentlich hätte da sein müssen, erschien sie nicht. Das beunruhigte ihn. Nikolas überlegte gerade, ob er den Legionär ansprechen sollte, als sie sich neben ihn auf die Steinbank setzte. Wortlos zündete sie sich eine Zigarette an.
Sie trug abgewetzte billige Kleidung, Sportschuhe und einen Kapuzenpullover, der ihre Körperformen fast vollkommen verschwinden ließ. Sie hatte dunkle Haut mit kleinen Unreinheiten an der Wange und widerspenstiges schwarzes Haar, das sie nachlässig zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Sie war schön.
»Also, was willst du?«, fragte sie schließlich.
»Wie heißt du?«, fragte er zurück.
»Was du von mir willst, hab ich dich gefragt!«
Ihre Augen verrieten den Orient, ihr Deutsch war gut, sie rollte das R wie eine Russin, was Nikolas verwunderte, denn er hatte sie für eine Roma gehalten, wie die drei anderen.
»Ich heiße Nikolas.«
Sie sah ihn an mit ihren müden Augen und rauchte. Sie schien etwas in seinem Blick zu suchen, und als sie es gefunden hatte, erschauderte sie.
»Du bist der Tod.«
Nikolas nickte. »Hast du Angst vor mir?«
Sie dachte kurz nach, atmete Rauch aus und schüttelte den Kopf. Ihr Blick glitt ab zu den drei anderen lebenden Bildern, die ihnen die Rücken zuwandten.
»Verschwinde«, sagte sie leise. »Du wirst sonst Probleme kriegen, verstehst du?«
»Wie heißt du?«, fragte Nikolas wieder.
Sie drückte ihre Zigarette aus und erhob sich.
»Marina«, sagte sie leise. »Komm nicht wieder, Tod.«
Sie eilte die breite Freitreppe runter, die zur Domplatte führte. Trotz der Warnung folgte Nikolas ihr. Doch am Fuß der Treppe fingen ihn drei Roma ab. Ohne Vorwarnung schlugen sie auf ihn ein. Kurze harte Schläge, wie von Profis. Nikolas steckte sie ohne Gegenwehr ein, den Schmerz packte er einfach an seinen geheimen Ort, wo er ihn sonst zu Hass umschmiedete. Diesmal jedoch nicht. Er sah bloß Marina nach, die sich an der Straßenecke noch einmal zu ihm umdrehte, und ließ sich verprügeln, bis er alarmierte Rufe von Passanten hörte und die drei Männer von ihm abließen.
Dann richtete er sich auf und kehrte in sein Apartment zurück. Am Abend klingelte es an der Tür. Nikolas griff nach seiner Machete und sah durch den Türspion. Marina stand vor der
Weitere Kostenlose Bücher