Collins, Suzanne
uns anderes übrig?
Unter diesen Umständen zurück auf die Straße zu gehen, würde mit Sicherheit
Gefangennahme oder Tod bedeuten. Ich schiebe die Pelze beiseite. Tigris hat ein
Brett am Fuß der Wand entfernt. Dahinter kommt eine steile Steintreppe zum
Vorschein. Sie bedeutet mir hinabzusteigen.
Alles an dieser Situation schreit: Falle! Panik
steigt in mir hoch, ich schaue Tigris in die gelbbraunen Augen. Warum tut sie
das? Sie ist kein Cinna, kein Mensch, der bereit ist, sich für andere zu
opfern. Diese Frau hat all die Seichtigkeit des Kapitals verkörpert. Sie war
einer der Stars der Hungerspiele, bis ... bis sie es nicht mehr war. Ist es
das? Verbitterung? Hass? Rachsucht? Irgendwie beruhigt mich die Vorstellung.
Der Wunsch nach Rache kann lang und heiß brennen. Besonders, wenn jeder Blick
in den Spiegel ihn neu nährt.
»Hat Snow dich von den Spielen verbannt?«, frage ich. Sie
starrt nur zurück. Irgendwo zuckt ihr Tigerschwanz missmutig. »Ich werde ihn
nämlich töten, musst du wissen.« Ihr Mund verzieht sich zu etwas, das ich als
Lächeln deute. Beruhigt, dass das hier jetzt nicht der völlige Wahnsinn ist,
krieche ich in das Loch.
Auf halber Höhe der Treppe stoße ich mit dem Gesicht gegen
eine herunterhängende Kette. Als ich daran ziehe, wird das Versteck von einer
flackernden Leuchtstofflampe erhellt. Es ist ein kleiner Keller ohne Türen oder
Fenster. Niedrig und lang gestreckt. Vermutlich nur ein Streifen zwischen zwei
richtigen Kellerräumen. Leuten, die kein gutes Auge für Abmessungen haben,
könnte er glatt verborgen bleiben. Der Raum ist kalt und feucht und die
Pelzstapel darin haben wahrscheinlich seit Jahren kein Tageslicht gesehen.
Solange Tigris uns nicht verrät, wird uns hier bestimmt niemand finden. Als der
letzte meiner Gefährten auf der Treppe ist, wird das Brett zurückgeschoben. Ich
höre, wie der Unterwäscheständer auf quietschenden Rollen an seinen Platz
gerückt wird und Tigris sich wieder auf ihren Stuhl setzt. Ihr Laden hat uns
verschluckt.
Das wurde auch höchste Zeit, denn Gale sieht aus, als
würde er gleich zusammenklappen. Aus Pelzen machen wir ihm ein Bett, nehmen ihm
Waffen und Panzer ab und helfen ihm, sich auf den Rücken zu legen. Am Ende des
Kellerraums befindet sich ein Wasserhahn mit Abfluss. Ich drehe am Hahn und
nach langem Spucken und jeder Menge Rost kommt klares Wasser herausgeflossen.
Während wir Gales Halsverletzung säubern, wird mir klar, dass es mit Verbinden
nicht getan sein wird. Die Wunde muss genäht werden. In den Erste-Hilfe-Sets
finden sich eine sterile Nadel und Faden, aber was uns fehlt, ist ein Heiler.
Ich überlege, Tigris damit zu beauftragen. Als Stylistin müsste sie wissen, wie
man mit einer Nadel umgeht. Aber dann wäre niemand im Laden und wir haben sie
sowieso schon genug beansprucht. Vermutlich bin ich diejenige, die am besten
für den Job qualifiziert ist. Also beiße ich die Zähne zusammen und mache ein
paar gezackte Nähte. Nicht hübsch, aber sie erfüllen ihren Zweck. Anschließend
schmiere ich Salbe drauf, verbinde das Ganze und gebe ihm Schmerzmittel. »Jetzt
ruh dich aus. Hier sind wir sicher«, sage ich. Gale ist sofort weg.
Während Cressida und Pollux für jeden ein Lager aus Fellen
bereiten, kümmere ich mich um Peetas Handgelenke. Behutsam spüle ich das Blut
ab, gebe ein Antiseptikum darauf und lege unter den Handschellen einen Verband
an. »Du musst achtgeben, dass kein Schmutz darankommt, sonst könnten sie sich
entzünden, und ...«
»Ich weiß, was eine Blutvergiftung ist, Katniss«, sagt
Peeta. »Obwohl meine Mutter keine Heilerin ist.«
Schlagartig bin ich in eine andere Zeit versetzt, bei
einer anderen Wunde, anderem Verbandszeug. »Dasselbe hast du bei den ersten
Hungerspielen zu mir gesagt. Wahr oder nicht wahr?«
»Wahr«, sagt er. »Und du hast dein Leben riskiert, um die
rettende Arznei zu kriegen, stimmt's?«
»Stimmt«, sage ich schulterzuckend. »Aber dir hatte ich zu
verdanken, dass ich am Leben und überhaupt dazu in der Lage war.«
»Ach ja?« Der Kommentar verwirrt ihn. Offenbar kämpft eine
leuchtende Erinnerung um seine Aufmerksamkeit, denn sein Körper verkrampft
sich, und die frisch verbundenen Gelenke reißen an den Handschellen. Plötzlich
weicht alle Energie aus seinem Körper. »Ich bin so müde, Katniss.«
»Leg dich schlafen«, sage ich. Aber er tut es erst,
nachdem ich die Handschellen zurechtgerückt und ihn an eine der Treppenstützen
gefesselt habe. Es kann nicht sehr
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