Collins, Suzanne
Flüchtlinge
auf den Straßen.
»Man soll nie die Macht eines erstklassigen Stylisten
unterschätzen«, sagt Peeta. Ich glaube, unter ihren Streifen errötet Tigris
sogar ein bisschen.
Das Fernsehen bringt keine hilfreichen Neuigkeiten, doch
die Straße ist noch immer voller Flüchtlinge, so wie gestern Morgen. Unser Plan
sieht vor, dass wir uns in drei Gruppen in den Menschenstrom einreihen. Erst
Cressida und Pollux, die vorangehen und uns führen. Danach wollen Gale und ich
versuchen, uns unter die Flüchtlinge zu mischen, die heute im Präsidentenpalast
untergebracht werden sollen. Zuletzt Peeta, der uns folgen wird, jederzeit
bereit, bei Bedarf einen Tumult zu verursachen.
Tigris späht durch den Rollladen und wartet auf den richtigen
Moment, dann entriegelt sie die Tür und nickt Cressida und Pollux zu. »Pass auf
dich auf«, sagt Cressida, dann sind sie fort.
Wir sollen eine Minute später folgen. Ich ziehe den
Schlüssel hervor, schließe die Handschellen auf und stecke sie in die Tasche.
Peeta reibt sich die Handgelenke. Dehnt sie. Ein Gefühl der Verzweiflung steigt
in mir auf. Es ist wie damals beim Jubel-Jubiläum, als Beetee Johanna und mir
die Drahtrolle reichte.
»Hör zu«, sage ich. »Keine Dummheiten, ja?«
»Nein. Nur wenn sich's nicht vermeiden lässt. Absolut«,
sagt er.
Ich schlinge die Arme um seinen Hals, merke, wie er zögert
und mich dann doch in die Arme schließt. Nicht so fest wie früher, aber immer
noch warm und stark. Tausend Momente durchströmen mich. All die Male, als diese
Arme meine letzte Zuflucht auf der Welt waren. Damals habe ich diese Momente
vielleicht nicht richtig zu schätzen gewusst, aber in meiner Erinnerung sind
sie so süß - und jetzt für immer vergangen. »Also dann.« Ich lasse ihn los.
»Es wird Zeit«, sagt Tigris. Ich küsse sie auf die Wange,
zurre mein rotes Kapuzencape fest, ziehe den Schal über die Nase und folge Gale
hinaus in die kalte Luft.
Eisige Schneeflocken stechen in meine ungeschützte Haut.
Die aufgehende Sonne versucht die Finsternis zu durchdringen, aber ohne großen
Erfolg. Das Licht reicht gerade aus, um die eingemummelten Gestalten in
unmittelbarer Nähe zu erkennen, viel mehr nicht. Wirklich optimale Bedingungen,
nur dass ich Cressida und Pollux leider auch nicht ausmachen kann. Gale und ich
lassen die Köpfe sinken und schlurfen mit den Flüchtlingen davon. Was ich
gestern durch Rollläden und Fenster nicht hören konnte, bekomme ich nun mit.
Weinen, Klagen, schwerfälliges Atmen. Und, nicht allzu weit entfernt, Schüsse.
»Wohin gehen wir, Onkel?«, fragt ein schlotternder Junge
einen Mann, der unter der Last eines kleinen Safes ächzt.
»Zum Präsidentenpalast. Dort wird man uns eine neue Wohnung
zuweisen«, schnauft der Mann.
Wir biegen in eine der Hauptstraßen ein. »Rechts gehen!«,
befiehlt eine Stimme. Überall in der Menge sind Friedenswächter zu sehen, die
den Menschenstrom regeln. Verängstigte Gesichter starren durch die
Schaufensterscheiben der Geschäfte, in denen sich schon die Flüchtlinge
drängen. Wenn das so weitergeht, wird Tigris spätestens um die Mittagszeit
neue Gäste bekommen. Gut für alle Beteiligten, dass wir uns zum Aufbruch
entschlossen haben.
Es ist jetzt heller, trotz des andauernden Schneefalls.
Dreißig Meter vor uns entdecke ich Cressida und Pollux, die mit der Menge
trotten. Ich recke den Hals auf der Suche nach Peeta, sehe ihn aber nicht.
Dafür errege ich die Aufmerksamkeit eines misstrauisch dreinschauenden kleinen Mädchens
in einem zitronengelben Mantel. Ich stupse Gale an und verringere meine
Geschwindigkeit unmerklich, sodass sich zwischen uns eine Mauer aus Menschen
bildet.
»Vielleicht müssen wir uns trennen«, flüstere ich ihm zu.
»Das kleine Mädchen da ...«
Plötzlich peitschen Schüsse in die Menge, in unmittelbarer
Nähe sinken die Leute zu Boden, man hört Schreie. Eine zweite Salve mäht noch
mehr Menschen hinter uns nieder. Gale und ich lassen uns zu Boden fallen und
kriechen die zehn Meter zu einem Schuhgeschäft hinüber, wo wir hinter einem
Verkaufstisch mit Pumps Deckung suchen.
Gale kann nichts sehen, weil eine Reihe mit Federn dekorierter
Schuhe ihm die Sicht versperrt. »Von wo kommt das? Kannst du was sehen?«, fragt
er. Durch eine Reihe abwechselnd lavendel- und minzefarbener Stiefel hindurch
sehe ich nur die mit Leichen übersäte Straße. Das kleine Mädchen, das mich eben
noch angestarrt hat, kniet kreischend neben einer reglos daliegenden Frau
Weitere Kostenlose Bücher