Collins, Suzanne
Können wir uns eine bessere Deckung wünschen? Andererseits
bedeutet jeder obdachlose Flüchtling, der auf den Straßen umherirrt, ein weiteres
Augenpaar, das nach den fünf flüchtigen Rebellen sucht. Aber noch mal: Was
bringt es uns hierzubleiben? In den vergangenen Stunden haben wir doch nur
unsere kleinen Essensvorräte verbraucht und darauf gewartet ... ja, worauf?
Darauf, dass die Rebellen das Kapitol einnehmen? Das könnte noch Wochen dauern,
und ich bin mir nicht sicher, was ich dann tun würde. Bestimmt nicht ins Freie
rennen und ihnen zujubeln. Bevor ich dreimal »Nachtriegel« sagen könnte, hätte
Coin mich zurück nach Distrikt 13 geschickt. Ich bin nicht den ganzen Weg
gegangen, habe nicht so viele Leute verloren, um mich dieser Frau auszuliefern. Ich töte Snow. Abgesehen davon, ist in den
letzten Tagen verdammt vieles passiert, was ich nicht so einfach erklären
könnte. Einiges würde die Abmachung über die Straffreiheit der Siegertribute
vermutlich hinfällig machen. Dabei habe ich das Gefühl, dass ein paar von ihnen
diese Immunität dringend brauchen werden. Peeta zum Beispiel. Der, egal wie
man es dreht, dabei gefilmt wurde, wie er Mitchell in die Netzkapsel stößt. Ich
kann mir lebhaft vorstellen, welche Schlüsse Coins Kriegstribunal daraus ziehen
würde.
Am späten Nachmittag werden wir langsam unruhig, weil Tigris
so lange fortbleibt. Wir wägen die Chancen ab, dass sie verhaftet und
eingesperrt worden ist, uns freiwillig angezeigt hat oder schlicht in der
Flüchtlingswelle verletzt worden ist. Gegen sechs Uhr kommt sie dann doch
zurück. Erst hören wir eine Zeit lang oben Schritte, dann löst sie endlich das
Brett. Wunderbarer Bratenduft erfüllt die Luft. Tigris hat uns eine Pfanne mit
Schinkenwürfeln und Kartoffeln zubereitet. Es ist die erste warme Mahlzeit seit
Tagen, und während ich warte, dass ich an der Reihe bin, läuft mir fast der
Speichel aus dem Mund.
Beim Kauen versuche ich, Tigris zuzuhören, die erzählt,
wie sie an das Essen gekommen ist, aber ich bekomme nur mit, dass
Fellunterwäsche zurzeit eine begehrte Tauschware ist. Besonders bei Leuten,
die ihre Wohnung spärlich bekleidet verlassen haben. Viele halten sich noch
immer unter freiem Himmel auf und suchen nach einem Unterschlupf für die Nacht.
Die Bewohner der Luxuswohnungen in der Innenstadt haben nicht etwa
bereitwillig ihre Türen geöffnet, um die Obdachlosen aufzunehmen. Im
Gegenteil, die meisten haben die Türen verrammelt und die Rollläden
heruntergelassen und tun so, als wären sie nicht da. Deshalb ist der Große
Platz im Zentrum voller Flüchtlinge, und die Friedenswächter gehen von Tür zu
Tür und weisen Gäste zu - wenn es sein muss, mit Gewalt.
Im Fernsehen sehen wir den Obersten Friedenswächter, der
mit knappen Worten eine neue Regelung verkündet, wie viele Menschen jeder
Wohnungsbesitzer entsprechend der Größe des Apartments bei sich aufnehmen muss.
Heute Nacht, ruft er den Bewohnern des Kapitols in Erinnerung, würden die Temperaturen
unter den Gefrierpunkt sinken; in diesen Krisenzeiten erwarte der Präsident
von allen, nicht nur willige, sondern begeisterte Gastgeber zu sein. Dann
werden ziemlich gestellt wirkende Szenen eingeblendet, die besorgte Bürger bei
der Aufnahme dankbarer Flüchtlinge in ihrer Wohnung zeigen. Der Präsident persönlich,
fährt der Oberste Friedenswächter fort, habe befohlen, dass ein Teil seines
Palastes hergerichtet wird, um ab morgen ebenfalls Flüchtlinge aufzunehmen. Und
schließlich sollten auch Geschäftsleute sich darauf einstellen, auf Anordnung
ihre Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen.
»Das könnte dich betreffen, Tigris«, sagt Peeta. Gut möglich.
Falls die Zahl der Flüchtlinge weiter zunimmt, könnte selbst dieser enge
Schlauch von Laden beschlagnahmt werden. Und dann säßen wir hier im Keller
buchstäblich in der Falle, in ständiger Gefahr, entdeckt zu werden. Wie viele
Tage haben wir noch? Einen? Vielleicht zwei?
Jetzt ist wieder der Oberste Friedenswächter zu sehen. Er
gibt der Bevölkerung weitere Instruktionen. Offenbar ist es diesen Abend zu
einem bedauerlichen Zwischenfall gekommen, in dessen Verlauf die Menge einen
jungen Mann totgeprügelt hat, der Peeta ähnlich sah. Von nun an muss es, wenn
jemand einen Rebellen sichtet, unverzüglich den Behörden gemeldet werden, die
die Identifizierung und Verhaftung des Verdächtigen vornehmen. Ein Foto des
Opfers wird eingeblendet. Abgesehen von den offensichtlich gebleichten
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