Collins, Suzanne
die Stiefel vorüber sind, öffne ich die Augen und nicke Gale zu.
Hinter der nächsten Querstraße stoßen wir auf noch mehr
verschreckte Flüchtlinge, dafür sind kaum Soldaten zu sehen. Gerade als es so
aussieht, als könnten wir ein wenig verschnaufen, ist ein Knacken zu hören,
wie von einem Ei, das am Schüsselrand aufgeschlagen wird, nur tausendmal
lauter. Wir bleiben stehen und suchen nach der Kapsel. Es ist keine da.
Plötzlich spüre ich, wie sich die Spitzen meiner Stiefel ganz leicht neigen.
»Lauf!«, schreie ich Gale zu. Es bleibt keine Zeit für Erklärungen, binnen
Sekunden wird die Natur dieser Kapsel sowieso für jeden offensichtlich. Auf
halber Höhe des Straßenabschnitts hat sich ein Riss aufgetan. Die gepflasterte
Straße klappt nach unten auf, und langsam kippen die Leute in ... was immer
dort unten sein mag.
Ich kann mich nicht entscheiden, ob ich auf kürzestem Weg
zur nächsten Kreuzung rennen oder mein Glück lieber bei einem der Tore, die
sich auf die Straße öffnen, versuchen und durch ein Gebäude entkommen soll. Die
Folge ist, dass ich nicht den kürzesten Weg nehme, sondern mich wie auf einer
Diagonale bewege. Je weiter sich die Klappen öffnen, desto schwieriger wird es,
auf den glitschigen Steinen nicht abzurutschen. Es ist, als liefe ich quer
über einen vereisten Hang, der mit jedem Schritt steiler wird. Als meine beiden
Ziele - die Kreuzung und das Gebäude - schon fast zum Greifen nah sind, geben
die Klappen abrupt nach. Jetzt kann ich mich nur noch zum Rand retten. Während
ich mich an einer Kante festkralle, kippen die Klappen nach unten weg. Meine
Füße baumeln in der Luft, finden nirgendwo Halt. Aus der Tiefe, fünfzehn Meter
unter mir, steigt ein widerlicher Gestank auf, wie verwesende Körper in der
Sommerhitze. Schwarze Gestalten kriechen im Halbschatten umher und bringen alle
zum Schweigen, die den Sturz überlebt haben.
Ich stoße einen erstickten Schrei aus. Niemand kommt mir
zu Hilfe. Lange werde ich mich nicht mehr an der eisigen Kante festhalten
können, doch da erkenne ich, dass die Ecke mit der Kapsel nur zwei Meter
entfernt ist. Zentimeter für Zentimeter hangele ich mich dorthin vor und
versuche dabei, die schrecklichen Geräusche von unten auszublenden. Als ich
die Ecke erreiche, schwinge ich den rechten Fuß über eine Seite hinauf. Ich
finde Halt und ziehe mich vorsichtig auf die Straße. Keuchend und zitternd
krieche ich weiter zu einem Laternenpfahl und umschlinge ihn mit den Armen wie
einen Anker, obwohl der Boden hier vollkommen eben ist.
»Gale?«, rufe ich in den Abgrund. Es ist mir egal, ob ich
entdeckt werde. »Gale?«
»Ich bin hier!« Verwundert schaue ich nach links. Die
Klappe hat sich direkt entlang der Häuserwand geöffnet. Etwa ein Dutzend Leute
haben es bis dorthin geschafft und halten sich nun an allem fest, was Halt
gibt. Klinken, Türklopfer, Briefschlitze. Drei Türen weiter klammert Gale sich
an die schmiedeeiserne Verzierung einer Wohnungstür. Wäre sie offen, könnte er
problemlos eintreten. Doch niemand kommt ihm zu Hilfe, ungeachtet seiner
verzweifelten Tritte gegen die Tür.
»Geh in Deckung!«, rufe ich und lege das Gewehr an. Er
wendet sich ab, und ich schieße mehrmals auf das Schloss, bis die Tür nach
innen auffliegt. Gale schwingt sich hinein und landet der Länge nach auf dem
Boden. Einen Augenblick lang schwelge ich im Hochgefühl seiner Rettung. Dann
wird er von weiß behandschuhten Händen gepackt.
Unsere Blicke treffen sich, er formt Worte mit den Lippen,
aber ich verstehe nicht. Weiß nicht, was ich tun soll. Zurücklassen kann ich
ihn nicht, zu ihm aber auch nicht. Wieder bewegt er die Lippen. Ich schüttele
den Kopf, um ihm meine Verwirrung zu zeigen. Jeden Augenblick wird ihnen
aufgehen, wen sie da gefangen genommen haben. Jetzt zerren ihn die Friedenswächter
nach drinnen. »Lauf.«, höre ich ihn schreien.
Ich drehe mich um und renne los, weg von der Kapsel. Ganz
allein jetzt. Gale ist gefangen. Cressida und Pollux könnten schon zehnmal tot
sein. Und Peeta? Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit wir Tigris' Laden
verlassen haben. Ich klammere mich an die Vorstellung, dass er vielleicht
dorthin zurückgegangen ist. Dass er einen Anfall nahen fühlte und sich in den
Keller zurückgezogen hat, solange er sich noch im Griff hatte. Dass er gemerkt
hat, dass kein Tumult notwendig war, nachdem das Kapitol selbst für so viel
Tumult gesorgt hat. Kein Grund, den Lockvogel zu spielen und die
Nachtriegel-Pille
Weitere Kostenlose Bücher