Collins, Suzanne
Todesfallen.
15
Nach und nach dämmert uns, was Gales Vorschlag bedeutet.
In den Gesichtern spiegeln sich die unterschiedlichsten Reaktionen. Von
Begeisterung bis Entsetzen, von Betroffenheit bis Genugtuung ist alles
vertreten. »Die meisten Arbeiter stammen aus Distrikt 2«, sagt Beetee. »Na
und?«, sagt Gale. »Denen können wir nie wieder trauen.«
»Sie sollten zumindest die Chance haben, sich zu ergeben«,
sagt Lyme.
»Dieser Luxus war uns nicht vergönnt, als sie die Brandbomben
auf 12 abgeworfen haben. Aber das Kapitol fassen wir doch lieber mit
Samthandschuhen an«, sagt Gale. Lyme sieht so aus, als würde sie ihn am
liebsten erschießen oder ihm zumindest eine reinhauen. Wahrscheinlich wäre sie
mit ihrer Ausbildung sogar im Vorteil. Aber ihre Reaktion macht Gale nur
wütend, er schreit: »Wir haben gesehen, wie Kinder verbrannt sind, und wir
konnten nichts tun!«
Die Erinnerung durchfährt mich und ich muss die Augen
einen Moment schließen. Der gewünschte Effekt bleibt nicht aus. Ich will alle
im Berg tot sehen. Bin kurz davor, es auszusprechen. Aber ... Ich bin nicht
Präsident Snow, sondern ein Mädchen aus Distrikt 12. Ich kann nicht aus meiner
Haut. Ich kann niemanden so sterben lassen, wie Gale es vorschlägt. »Gale«,
sage ich möglichst ruhig und fasse ihn am Arm. »Die Nuss ist ein altes
Bergwerk. Das wäre so, als würdest du ein riesiges Minenunglück auslösen.«
Diese Worte würden jeden aus Distrikt 12 nachdenklich stimmen.
»Nur nicht so plötzlich wie das Unglück, bei dem unsere
Väter umgekommen sind«, kontert er. »Ist das etwa euer Problem? Dass unsere
Feinde vielleicht noch ein paar Stunden Zeit haben, über ihren bevorstehenden
Tod nachzudenken, anstatt einfach begraben zu werden?«
Als wir noch Kinder waren, die jenseits des Zauns von Distrikt
12 auf die Jagd gingen, hat Gale auch schon solche und schlimmere Sachen
gesagt. Aber damals waren es nur Worte. Hier werden sie zu Taten, die nie
wieder rückgängig gemacht werden können.
»Du weißt doch gar nicht, wie diese Leute aus Distrikt 2
in der Nuss gelandet sind«, sage ich. »Vielleicht hat man sie gezwungen.
Vielleicht werden sie gegen ihren Willen dort festgehalten. Unsere eigenen
Spione sind auch darunter. Willst du die auch umbringen?«
»Ich würde ein paar opfern, ja. Um die anderen zu
erledigen«, antwortet er. »Und wenn ich ein Spion da drin wäre, würde ich
sagen: Los, setzt die Lawinen in Gang!«
Ich weiß, dass er die Wahrheit sagt. Dass er sein Leben
für die Sache opfern würde - niemand zweifelt daran. Vielleicht würden wir das
alle tun, wenn wir Spione wären und vor der Wahl stünden. Ich wahrscheinlich
schon. Aber eine solche Entscheidung für andere und ihre Angehörigen zu
treffen, ist hartherzig.
»Du hast gesagt, wir haben zwei Möglichkeiten«, sagt
Boggs. »Sie einzusperren oder rauszutreiben. Ich schlage vor, wir lösen die
Lawinen aus, tasten den Eisenbahntunnel jedoch nicht an.
Dann können die Menschen auf den Platz flüchten und da nehmen
wir sie in Empfang.«
»Schwer bewaffnet, will ich doch hoffen«, sagt Gale. »Denn
sie werden es sein, darauf kannst du wetten.«
»Schwer bewaffnet. Wir nehmen sie gefangen«, stimmt Boggs
zu.
»Gut, dann weihen wir jetzt Distrikt 13 ein«, schlägt
Beetee vor. »Präsidentin Coin soll sagen, was sie dazu meint.«
»Garantiert will sie den Tunnel blockieren«, sagt Gale
zuversichtlich.
»Ja, wahrscheinlich. Aber in einem hatte Peeta recht mit
dem, was er in seinen Propos gesagt hat. Über die Gefahr, dass wir uns
womöglich selbst zerstören. Ich habe mal ein bisschen mit Zahlen herumgespielt.
Wenn man die Verluste einbezieht und die Verwundeten und ... Ich finde, man
sollte wenigstens darüber reden«, sagt Beetee.
Nur eine Handvoll Leute dürfen bei dieser Unterredung dabei
sein. Gale und ich werden mit den anderen hinausgeschickt. Ich nehme ihn mit
auf die Jagd, damit er ein bisschen Dampf ablassen kann, doch er redet nicht
viel. Ist wohl zu sauer auf mich, weil ich ihm widersprochen habe.
Schließlich fällt die Entscheidung, und am Abend stehe ich
bereit - in meinem Spotttölpelkostüm, den Bogen über der Schulter. Über ein
Headset bin ich mit Haymitch in Distrikt 13 verbunden, für den Fall, dass sich
die Gelegenheit für einen guten Propo ergibt. Wir warten auf dem Dach des
Justizgebäudes. Von dort aus haben wir unser Ziel im Visier.
Anfangs werden unsere Hoverplanes von den Kommandanten in
der Nuss ignoriert, denn in der
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