Collins, Suzanne
die Haltung, um besser
sehen zu können, und sage mir die ganze Zeit, dass ich durchhalten muss, bis
ich in den Wald laufen und schreien kann. Oder fluchen. Oder heulen.
Vielleicht auch alles zugleich.
Falls das ein Test war, haben Finnick und ich ihn beide bestanden.
Als Plutarch fertig ist und die Versammlung für geschlossen erklärt, erfahre
ich zu meinem Schrecken, dass ein Sonderbefehl auf mich wartet. Doch es geht
nur darum, dass ich von dem Militärhaarschnitt ausgenommen bin. Der Spotttölpel
soll bei der Kapitulation des Kapitols möglichst so aussehen wie das Mädchen in
der Arena. Für die Kameras natürlich. Ich zucke die Achseln, zum Zeichen, dass
nichts mir gleichgültiger ist als die Länge meiner Haare. Ohne weiteren
Kommentar werde ich entlassen.
Im Flur laufe ich Finnick in die Arme. »Was soll ich bloß
Annie erzählen?«, sagt er leise.
»Nichts«, antworte ich. »Dasselbe, was meine Mutter und
meine Schwester von mir erfahren werden.« Schlimm genug zu wissen, dass wir
wieder in eine richtige Arena zurückmüssen. Es ist sinnlos, unsere Liebsten
damit zu belasten.
»Wenn sie das Hologramm sieht ...«, setzt er an.
»Wird sie aber nicht. Ist doch Geheimsache. Muss es sein«,
sage ich. »Außerdem ist es ja nicht genau das Gleiche wie die Spiele. Es können
mehrere überleben. Wir reagieren nur deshalb so heftig, weil ... na ja, du
weißt schon, warum. Du gehst aber trotzdem, oder?«
»Klar. Ich will Snow genauso fertigmachen wie du.«
»Es wird nicht so sein wie bei den anderen Spielen«, sage
ich entschieden, denn ich will mich selbst überzeugen. Dann dämmert mir der
eigentliche Reiz der Situation. »Diesmal spielt auch Snow mit.«
Bevor wir noch etwas sagen können, taucht Haymitch auf. Er
war nicht auf der Versammlung, er hat andere Sorgen. »Johanna ist wieder auf
der Station.«
Ich hatte gedacht, Johanna hätte wie ich ihre Prüfung
bestanden und wäre nur nicht den Scharfschützen zugeteilt worden. Ihre Stärke
ist das Axtschleudern, mit dem Gewehr dagegen ist sie nur durchschnittlich.
»Wieso, was ist los? Hat sie sich verletzt?«
»Es ist im Block passiert. Ihr wisst ja, dort versuchen
sie, die Schwächen eines Soldaten herauszukitzeln. Bei ihr haben sie die Straße
geflutet«, sagt Haymitch.
Das verstehe ich nicht. Johanna kann doch schwimmen. Jedenfalls
meine ich mich daran zu erinnern, dass sie beim Jubel-Jubiläum ein bisschen
geschwommen ist. Natürlich nicht wie Finnick, aber mit ihm kann sich keiner von
uns messen. »Na und?«
»So wurde sie im Kapitol gefoltert. Sie haben sie nass gemacht
und dann mit Elektroschocks gequält«, sagt Haymitch. »Und im Block hatte sie
dann eine Art Dejá-vu. Vor lauter Panik wusste sie nicht mehr, wo sie war. Sie
bekommt jetzt wieder Beruhigungsmittel.« Finnick und ich stehen nur da, es hat
uns die Sprache verschlagen. Jetzt fällt mir ein, dass Johanna nie duscht. Und
wie sie sich einmal bei den Übungen zwingen musste, hinaus in den Regen zu
gehen, als käme nicht Wasser, sondern Säure vom Himmel. Und ich hatte das auf
den Morfix-Entzug geschoben.
»Es wäre gut, wenn ihr beide sie besuchen würdet«, sagt
Haymitch. »Wenn sie überhaupt so etwas wie Freunde hat, dann euch zwei.«
Was für eine schreckliche Vorstellung. Ich weiß ja nicht,
was für ein Verhältnis Finnick zu Johanna hat. Ich jedenfalls kenne sie kaum.
Keine Verwandten. Keine Freunde. Nicht mal ein Andenken aus 7, das sie zu der
Einheitskleidung in ihre anonyme Schublade legen könnte. Nichts.
»Ich geh mal lieber gleich zu Plutarch und erzähle es
ihm«, sagt Haymitch. »Das wird ihm gar nicht gefallen. Er möchte für die
Kameras möglichst viele Sieger im Kapitol haben. Das macht sich im Fernsehen
besser, meint er.«
»Kommst du auch mit, und Beetee?«, frage ich.
»Möglichst viele junge, attraktive Sieger«, verbessert
sich Haymitch. »Soll heißen: Nein, wir bleiben hier.«
Finnick marschiert sofort hinunter zu Johanna, während ich
noch ein paar Minuten draußen herumstehe und auf Boggs warte. Ich unterstehe
jetzt seinem Kommando, also muss ich mich wohl an ihn wenden, wenn ich
irgendwelche Extrawünsche habe. Als ich ihm erzähle, was ich vorhabe, stellt
er mir eine Ausgangserlaubnis aus, mit der ich während der Besinnungsstunde in
den Wald darf, vorausgesetzt, dass ich in Sichtweite der Wachen bleibe. Schnell
laufe ich in meine Wohneinheit, überlege, ob ich den Fallschirm mitnehmen soll,
aber es hängen zu viele schreckliche Erinnerungen daran.
Weitere Kostenlose Bücher