Collins, Suzanne
es mir auch immer«, gesteht er. »Wenn ich auf dem Bildschirm gesehen
hab, wie du ihn küsst. Allerdings war mir immer bewusst, dass ich ein bisschen
ungerecht war. Das sieht er nicht.«
Jetzt sind wir an meiner Tür. »Vielleicht sieht er mich
einfach so, wie ich wirklich bin. Ich muss jetzt schlafen.«
Bevor ich verschwinden kann, hält Gale mich am Arm fest.
»Das denkst du also?« Ich zucke die Schultern. »Katniss, glaub mir als deinem
ältesten Freund: Er sieht dich nicht so, wie du wirklich bist.« Er gibt mir
einen Kuss auf die Wange und geht.
Ich setze mich aufs Bett und versuche, mir Stoff aus dem
Buch über Kriegstaktiken reinzupauken, doch immer wieder durchkreuzen
Erinnerungen an die Nächte mit Peeta im Zug meine Gedanken. Nach etwa zwanzig
Minuten kommt Johanna herein und wirft sich auf das Fußende meines Betts. »Du
hast das Beste verpasst. Delly ist ausgeflippt, weil Peeta dich so mies
behandelt hat. Ihre Stimme wurde ganz piepsig. Es war, als würde jemand eine
Maus immer wieder mit der Gabel piksen. Der ganze Speisesaal war hin und weg.«
»Und Peeta?«, frage ich.
»Der hat mit sich selbst geredet, als wäre er zwei
Personen. Die Wärter mussten ihn wegbringen. Das Gute daran war, dass keiner
mitgekriegt hat, wie ich seinen Eintopf aufgegessen hab.« Johanna reibt sich
den vollen Bauch. Ich schaue auf ihre schwarzen Fingernägel und frage mich, ob
sich die Leute in Distrikt 7 je richtig waschen.
Wir verbringen einige Stunden damit, uns gegenseitig
militärische Fachausdrücke abzuhören. Dann gehe ich für eine Weile zu meiner
Mutter und Prim hinüber. Als ich wieder in meiner Einheit bin, geduscht habe
und in die Dunkelheit starre, frage ich schließlich: »Johanna, hast du wirklich
gehört, wie er geschrien hat?«
»Das gehörte dazu«, sagt sie. »Wie die Schnattertölpel in
der Arena. Nur dass es echt war. Und es hat nicht nach einer Stunde aufgehört.
Tick, tack.«
»Tick, tack«, flüstere ich zurück.
Rosen. Wolfsmutationen. Tribute. Zuckergussdelfine. Freunde.
Spotttölpel. Stylisten. Ich.
Heute Nacht schreit alles in meinen Träumen.
18
Mit aller Macht stürze ich mich ins Training. Ich sauge
alles auf - Konditionstraining, Exerzieren, Waffenübungen, Vorträge über
Taktik. Ich werde mit einer Handvoll Leute in eine eigene Gruppe eingeteilt,
und das gibt mir Hoffnung, dass ich eine Kandidatin für den Kampfeinsatz bin.
Die Soldaten nennen diese Gruppe den Block, aber in meinen Arm sind die
Buchstaben S. N. tätowiert, das steht für
»Simulierter Nahkampf«. Mitten in Distrikt 13 wurde ein künstlicher Häuserblock
des Kapitols nachgebaut. Der Ausbilder teilt uns in Gruppen zu acht Personen
ein, und wir versuchen Aufträge auszuführen - eine Stellung erobern, ein
Zielobjekt zerstören, einen Unterschlupf suchen -, als müssten wir uns
wirklich durchs Kapitol kämpfen. Das Ganze ist so aufgebaut, dass alles
schiefgeht, was nur schiefgehen kann. Ein falscher Schritt löst eine Landmine
aus, ein Scharfschütze taucht auf einem Dach auf, das Gewehr klemmt, das Weinen
eines Kindes lockt uns in einen Hinterhalt, der Staffelführer - bei dieser
Übung nur eine Stimme - wird von einem Minenwerfer getroffen, und wir müssen
uns überlegen, was wir ohne Befehle machen. Wir wissen natürlich, dass wir nur
so tun, als ob, und dass wir nicht wirklich getötet werden können. Wenn man
eine Landmine auslöst, hört man die Explosion und dann muss man umfallen und
sich tot stellen. Aber es fühlt sich doch ziemlich echt an - die feindlichen Soldaten
in der Uniform der Friedenswächter, das Durcheinander nach einer Rauchbombe.
Selbst mit Giftgas greifen sie uns an. Johanna und ich schaffen es als Einzige,
rechtzeitig die Masken aufzusetzen. Der Rest unserer Gruppe ist zehn Minuten
lang ohnmächtig. Und das angeblich harmlose Gas, von dem ich ein paar Züge
eingeatmet habe, beschert mir für den Rest des Tages hartnäckige
Kopfschmerzen.
Cressida und ihr Team filmen Johanna und mich auf dem
Schießplatz. Auch Gale und Finnick werden gefilmt. Das gehört zu einer neuen
Serie von Propos, in der gezeigt wird, wie die Rebellen sich auf den Einmarsch
ins Kapitol vorbereiten. Im Großen und Ganzen läuft alles recht gut.
Da taucht Peeta plötzlich bei unserem morgendlichen Training
auf. Die Handschellen sind ab, aber noch immer wird er auf Schritt und Tritt
von zwei Wärtern begleitet. Nach dem Mittagessen sehe ich ihn weiter hinten auf
dem Platz, wie er mit einer Gruppe von Anfängern
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