Colorado Saga
verschiedenen, weit entfernten Körperteile zu senden. Dieses Gehirn war zu klein und undifferenziert, um ihr so etwas Kompliziertes wie logisches Denken oder Erinnern zu gestatten; nur die Gewohnheit warnte sie vor Gefahren, und nur der instinktive Gebrauch des Schwanzes schützte sie gegen Angriffe jeder Art, wie sie eben erst wieder einen erlebt hatte. Was jedoch eine Erklärung jenes zwingenden Triebes betraf, den sie empfand und der der Hauptgrund dafür war, daß sie die Sicherheit ihrer Herde verlassen hatte, so konnte ihr das kleine Gehirn nicht das geringste darüber sagen.
Also marschierte sie mit tolpatschiger Grazie auf eine weiter flußaufwärts gelegene Stelle zu, eine weiße Kalkklippe, die sie schon kannte. Die Klippe erhob sich in einiger Entfernung von der Lagune, dreißig Meter über dem Fluß. Hier hatten Wasserwirbel einen Sumpf entstehen lassen, der ihr, als sie sich diesem vertrauten Gelände näherte, das Gefühl vermittelte, in Sicherheit zu sein. Sie hob die Schultern noch einmal und brachte die Hüften in die richtige Stellung. Den Schwanz in graziösem Bogen schwingend, untersuchte sie das Ufer des Sumpfes mit einem der massigen Vorderfüße. Zufrieden mit dem, was sie gefühlt hatte, bewegte sie sich langsam vorwärts und sank tiefer und tiefer ins dunkle Wasser, bis sie mit dem gesamten Körper untergetaucht war und nur der kleine Buckel auf ihrem Kopf noch über der Sumpffläche schwamm, damit sie richtig atmen konnte.
Schlafen aber konnte sie nicht. Jenes ungestillte Verlangen, von dem sie erfüllt war, hielt sie wach, obwohl sie fühlen konnte, wie der neue Stein die Blätter bearbeitete, die sie während des Tages verschlungen hatte, und obwohl das Summen der Tagesinsekten erstorben war, ein Zeichen dafür, daß es Nacht wurde. Sie wollte schlafen, aber sie konnte nicht, deswegen schickte das winzige Gehirn nach einigen Stunden Signale durch das Nervensystem, und sie stapfte mit lauten, schmatzenden Geräuschen durch den Sumpf. Bald befand sie sich wieder im Hauptflußlauf, immer noch auf der Suche nach etwas Unbestimmtem, das sie weder definieren noch entdecken konnte. So verbrachte sie die lange Tropennacht.
Der Diplodocuskörper funktionierte aus drei Gründen so gut. Solange das Weibchen sich in dem Sumpf am Fuß der Klippen aufhielt, einem Gebiet, das für die meisten Tiere den Tod bedeutet hätte, konnte es sich deswegen wieder herausarbeiten, weil seine schweren Füße eine besondere Eigenschaft besaßen: Obwohl sie im Schlamm beim Auftreten breit und flach wurden, komprimierten sie sich, sobald sie aus dem zähen Schlamm gezogen werden sollten, bis auf die Breite des jeweiligen Vorderbeins, so daß das Diplodocus-Weibchen sein riesiges Bein so leicht aus dem dicken Brei ziehen konnte wie ein Schilfrohr aus dem Schlick am Ufer des Sumpfes. Der Schlamm hatte nichts mehr, woran er sich klammern konnte, und der Fuß kam mit einem saugenden Geräusch vom Boden los. Der Diplodocus hat seinen Namen - »Doppelbalken« - bekommen, weil sechzehn seiner Schwanzwirbel -Nummer zwölf bis siebenundzwanzig, unterhalb der
Hüften - mit je einem Paar Flanschen ausgestattet waren, die zum Schutz der großen, an der Schwanzunterseite verlaufenden Arterie dienten. Aber die Wirbel besaßen noch einen zweiten Kanal, der sich an ihrer Oberseite von der Schädelbasis bis zum stärksten Teil des Schwanzes hinzog. In diesem Kanal lag eine mächtige, überaus dicke Sehne, fest verankert an Hüfte und Schulter, die von beiden Punkten aus zu aktivieren war. Der lange Hals und der kräftige Schwanz waren also sozusagen die Vorläufer unseres Krans, mit dem wir in späterer Zeit durch die geschickte Handhabung eines über einen Flaschenzug laufenden Seils und eines Gegengewichtes auch schwerste Gegenstände heben konnten. Die Rolle des Flaschenzuges spielte beim Diplodocus der von den Flanschpaaren der Wirbel gebildete Kanal; das Seil war die mächtige Sehne zwischen Hals und Schwanz; das Gegengewicht der schwere Körper, und alles zusammen funktionierte mit beinahe göttlicher Einfachheit. Sein Hals war so hervorragend ausgebildet, daß das Diplodocus-Weibchen, hätte es Zähne besessen, den angreifenden Dinosaurier hoch in die Luft hätte heben können - ungefähr so, wie die Klaue eines gut konstruierten Krans einen Gegenstand heben kann, der ihr eigenes Gewicht um ein Vielfaches übertrifft. Ohne dieses System von Seil und Flaschenzug hätte der Diplodocus weder Hals noch Schwanz bewegen und
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