Colorado Saga
Wasseroberflache lag.
Das Weibchen suchte einen Stein. Schon seit geraumer Zeit hatte sie instinktiv gemerkt, daß ihr ein größerer Stein fehlte, und die Tatsache hatte sie stark beunruhigt. Sie hatte sich über den fehlenden Stein sogar regelrecht aufgeregt und war jetzt felsenfest entschlossen, die Angelegenheit endgültig zu bereinigen. Mit tief hinabgesenktem Kopf untersuchte sie den Boden des Flußbettes, konnte aber keinen passenden Stein entdecken.
Der Mißerfolg zwang sie, den Fluß weiter hinaufzugehen, wobei sich ihre vorsichtigen Bewegungen der leichten Steigung des unsicheren Flußbettes anpaßten. Hier fand sie tatsächlich viele Steine, intuitive Vorsicht aber sagte ihr, daß sie für ihren Zweck zu scharfkantig waren, und deswegen ließ sie sie unbeachtet. Einmal nur noch machte sie halt, drehte mit ihrer stumpfen Nase einen Stein um, ließ ihn dann aber auch wieder liegen. Viel zu viele gefährlich scharfe Ecken und Kanten.
Von ihrer Suche in Anspruch genommen, entging ihr, daß sich ihr ein ziemlich großer Landdinosaurier näherte, der aufrecht auf zwei Beinen ging. An Größe konnte er sich nicht mit dem Weibchen messen, aber er war beweglicher, hatte einen großen Kopf und einen weiten Rachen, der mit einer Batterie gefährlicher, spitzer Zähne bewaffnet war. Er war ein Fleischfresser, stets auf der Suche nach den riesigen Wasserdinosauriern, die sich zu weit ans Ufer wagten. Zwar war er bei weitem nicht groß genug, um ein so überdimensionales Tier wie den Diplodocus anzugreifen, wenn dieser sich in seinem Element befand, aber er hatte festgestellt, daß mit den großen Reptilien, die gelegentlich den Fluß heraufkamen, etwas nicht stimmte, und schon zweimal hatte er eines von ihnen schlagen können.
Behutsam mit den mächtigen Hinterfüßen auftretend, die beiden kleinen Vorderfüße zum Zupacken bereit, näherte er sich dem Diplodocus-Weibchen von der
Seite. Dabei achtete er sorgfältig darauf, nicht in den Bereich des langen Schwanzes zu geraten, denn der war die einzige Waffe seines Gegners.
Das Weibchen merkte nichts von seinem Feind, sondern fuhr fort, auf dem Flußgrund nach dem richtigen Stein zu suchen. Der fleischfressende Dinosaurier hielt den tiefgesenkten Kopf für ein Anzeichen von Schwäche. Er zielte genau nach der Stelle, an der der empfindliche Hals in den Körper überging, mußte aber feststellen, daß das Weibchen keineswegs kampfunfähig war, denn als sie ihn kommen sah, drehte sie sich geschickt herum und präsentierte dem Angreifer die gewaltige Breitseite. Diese Bewegung verblüffte ihn so, daß er erschrocken rückwärts stolperte. Gleichzeitig trat das Diplodocus-Weibchen einen Schritt vor, holte mit ihrem Schwanz aus und traf ihn mit so kräftigem Schlag, daß er in hohem Bogen laut krachend ins Unterholz geschleudert wurde.
Der Schlag hatte ihm einen der kleinen Vorderfuße gebrochen, und als er davonschlurfte, stieß er tief in der Kehle eine Reihe von Schmerzenslauten aus. Das Diplodocus-Weibchen schenkte ihm keine weitere Beachtung und nahm die Suche nach dem richtigen Stein wieder auf.
Endlich fand sie, was sie brauchte. Der Stein wog ungefähr drei Pfund, war an den Enden abgeflacht und sowohl glatt als auch schön rund. Zweimal stieß sie ihn mit der Nase an, um sich auch ganz genau zu vergewissern, daß er seinen Zweck erfüllen würde, dann nahm sie ihn tief in den Mund, reckte den Kopf zu seiner ganzen majestätischen Höhe, schluckte den Stein und ließ ihn durch den langen Hals bis in die Kehle und anschließend in den Kaumagen gleiten, wo er auf sechs etwas kleinere Steine stieß, die sich bei jeder Bewegung sanft aneinander rieben. Hier zerkleinerte das Diplodocus-Weibchen seine Nahrung, wobei die sieben Steine den Ersatz für die fehlenden
Backenzähne darstellten. Mit seltsamen, aber reizvollen Verrenkungen gewöhnte sie ihren Körper an den neuen Stein und spürte, wie er seinen Platz zwischen den anderen Steinen fand.
Die Nacht brach herein. Der Überfall des kleineren Dinosauriers hatte sie daran erinnert, daß sie sich in den Schutz der Lagune zurückbegeben mußte, wo vierzehn weitere Reptile eine Herde bildeten, doch eine unbestimmte Sehnsucht veranlaßte sie, im Fluß zu bleiben, eine Sehnsucht, die sie bereits mehrere Male empfunden hatte, an die sie sich aber kaum noch erinnerte. Denn sie hatte wie alle Mitglieder der Diplodocus-Familie ein extrem kleines Gehirn, das kaum groß genug war, um die notwendigen Signale an die
Weitere Kostenlose Bücher