Colorado Saga
eine endlose Kette von Mißerfolgen hinter sich, aber immer wieder fand sich eine reisende Truppe, die einen guten irischen Schauspieler brauchte, noch dazu mit einer Frau, die die Trompete handhaben konnte. Die beiden beschlossen, nach Chicago zurückzugehen.
Die Wendells wollten in Centennial bleiben. »Aber was sollen wir hier tun?« jammerte Mervin. Seit seinem zwölften Lebensjahr war die Bühne seine Heimat gewesen, er kannte nichts anderes. »Was soll ich denn für eine Arbeit annehmen?« fragte er immer wieder verzweifelt.
Bevor Maude noch eine Antwort fand, tauchte plötzlich Hilfe in Gestalt eines Mannes auf, den sie nie zuvor gesehen hatten. Zögernd kam er durch die Bühnentür ins Theater geschlichen, einen Ort, an dem er nicht heimisch war, und näherte sich der Familie Wendell. Der Mann war groß, linkisch und schüchtern. Da es auf der Bühne dunkel war, konnten die Wendells weder seinen steifen weißen Kragen erkennen noch die Bibel, die er mit beiden Händen umklammerte.
»Ich dachte, ich könnte Ihnen vielleicht helfen«, meinte er freundlich. Bei diesen Worten sanken Mrs. Wendells Schultern zusammen, sie lehnte sich an eine Schachtel und sagte: »Ja, wir brauchen Hilfe, und zwar ganz dringend.«
»Ich weiß«, sagte der Mann. »Auch das Hotel hat Ihre Sachen beschlagnahmt.«
»Das können sie doch nicht tun!« rief Mervin. »Ich habe im voraus bezahlt.«
»Die Zimmer«, sagte Maude erschöpft. »Aber wir haben gefuttert wie die Drescher.«
»Gestatten«, sagte der Mann, »mein Name ist Holly, Pfarrer Holly von der Union Church.« Er schüttelte den drei Wendells einzeln die Hand, und zu Philip sagte er: »Du solltest um diese Zeit längst im Bett sein, junger Mann. Morgen wirst du bei uns schlafen.«
»Warum tun Sie das?« fragte Maude.
»Die ganze Stadt war über die Toten vom Zirkus erschüttert. Wir wurden daran erinnert, daß Schauspieler, Zauberkünstler und Clowns...« Er spürte, daß die Zusammenstellung vielleicht nicht ganz glücklich war, und hielt inne. »Viele von uns möchten Ihnen helfen.«
Er nahm sie drei Tage lang bei sich auf, dann teilte er ihnen mit, daß er ein bleibendes Heim für sie gefunden habe, ein möbliertes Haus, das Mr. Delmar Gribben, einem Pfarrkind, gehörte.
»Woher sollen wir die Miete nehmen?« fragte Maude. »Die ersten zwei Monate haben Sie keine Miete zu bezahlen. Und danach werden Sie Geld haben. Am Bahnhof wird ein Mann halbtags gebraucht, der sich um das Gepäck kümmert, und diese Stelle sollen Sie bekommen, Mr. Wendell.«
»Bekomme ich Geld dafür?«
»Aber selbstverständlich! Mr. Wendell, die Gemeinde hier sähe es gern, wenn Sie und Ihre Familie bei uns blieben. Wir brauchen mehr Menschen. Wir brauchen Sie!«
Also kehrten die Wendells dem Theater den Rücken, das ihnen schon längst den Rücken gekehrt hatte, und zogen dankbar in das Haus von Mr. Gribben am oberen Ende der Ersten Straße, gleich nach der Kreuzung mit der Fifth Avenue. Das weiträumige Haus blickte auf den freien Platz von North Bottoms und die nach Osten gerichtete Windung des Beaver Creek. Am Sonntagabend gelang es den drei Wendells, sich anläßlich eines jener liturgisch frei gestalteten Gottesdienste, wie Hochwürden Holly sie liebte, einen dauernden Platz im Herzen der Bürger von Centennial zu sichern.
An diesen Abenden war es Sitte, daß die musikalischen Mitglieder der Gemeinde sich anboten, Solos und Duette zu singen. Kirchenlieder wurden bevorzugt, wie zum Beispiel »Das alte, zerfurchte Kreuz« oder »Schaffe, denn die Nacht will kommen«, aber Mervin schlug dem Pfarrer vor, daß er und Maude, von ihrem Sohn begleitet, der Gemeinde ein rührendes Lied vorsingen würden, mit dem die Familie auch schon bei Gottesdiensten in Indiana und Ohio einigen Erfolg gehabt hatte. Hochwürden Holly war sehr erfreut darüber, und Mervin besprach sich kurz mit der Klavierspielerin, die das Lied gut kannte, es sogar zu ihren Lieblingsliedern zählte. Also schlug sie die tiefen, vollen Akkorde an, mit denen Septimus Winners Erfolgskomposition »Hoffnungsgeflüster« beginnt. Dieses beachtliche Werk war im Jahre 1868 veröffentlicht worden, und zwar unter dem Pseudonym Alice Hawthorne, denn der Komponist hatte - und das durchaus mit gutem Grund - empfunden, daß die außerordentlichen Gefühle, von denen das Lied erzählte, einer Frau besser anstanden als einem Mann. Das Lied hatte die Vereinigten Staaten im Sturm erobert; der sanfte Melodiebogen des Soprans schien den Baß
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