Colorado Saga
vereinzelte Härchen wegzuschneiden. Als fünf Minuten vor zehn die Glocke läutete, war Rodeo fürwahr ein stattliches Tier. Timmy führte ihn in den Ring, und der schöne Hereford-Stier bewegte sich mit gewichtiger Anmut und setzte seine mächtigen Hufe in würdevollem Rhythmus auf. Die Frauen mehrerer Viehzüchter, die wußten, wie ein guter Stier aussehen mußte, klatschten Beifall.
Die Preisrichter brauchten fast eine halbe Stunde, denn andere Jungen hatten mit ihren Kälbern ähnlich gute Arbeit geleistet. Manche Stiere waren schwerer als Rodeo, keiner aber von so perfektem Körperbau, und am Ende erklärten die Richter Timmys Stier einstimmig zum Champion. Timmy hatte nicht geweint, als er im vorigen Jahr unterlegen war, und so kam es gar nicht in Frage, daß er es jetzt, nach einem Sieg, tun würde. Die Zähne zusammenbeißend, stand er ruhig da und hielt den Halfter in seiner linken Hand, doch als die Fotografen ihre Bilder geschossen hatten und der Rummel vorüber war, konnte er sich nicht länger beherrschen und warf mit einem Freudenschrei die Arme um Rodeos massigen Hals. Dieser Schnappschuß war es, durch Zufall von einem herumstehenden Reporter geknipst, der, eine hinreißende Darstellung von Triumph und Herzeleid, bald um die ganze Erde gehen sollte.
Timmy bedauerte es, daß seine Eltern kein Telefon hatten, denn er hätte ihnen nur zu gern sofort von seinem Sieg berichtet. Noch mehr drängte es ihn, seine Mutter wissen zu lassen, daß er ihr mindestens hundert Dollar mitbringen würde - sofern die Auktion das erwartete Ergebnis brachte.
Sie brachte es. Timmy führte Rodeo in den Ring, und der Auktionator stellte sich vor das Mikrophon. »Meine Herren«, sagte er, »die meisten von Ihnen waren dabei, als dieser Junge, er heißt Timmy Grebe, voriges Jahr beim >Fang es und es gehört dir<-Wettbewerb so tapfer gekämpft hat. Er mußte sich geschlagen geben, bekam aber trotzdem ein Kalb zugesprochen, und nun zeigt sich, daß er dieses Geschenk auch verdient hat. Sie sehen ihn jetzt hier mit dem besten Stier seiner Klasse.« Mit leiserer Stimme fügte er hinzu: »Ich brauche Ihnen ja nicht zu sagen, daß er der Bruder des Busfahrers Ethan Grebe ist, der sich als wahrer Held erwiesen hat.«
Das Publikum begrüßte ihn mit Beifallsrufen, und Mr. Bellamy, der auch zur Auktion gekommen war, lächelte stolz. Es wurde lebhaft geboten; am Ende entwickelte sich die Versteigerung zu einem Wettstreit zwischen dem Albany-Hotel, wo die meisten Viehzüchter logierten, und dem Brown Palace, einem Restaurant, wo die feinen Leute ihre Steaks zu verzehren pflegten. Schließlich gewann der Brown Palace mit einem Gebot von einhundertfünfundvierzig Dollar. Der Auktionator behielt eine bescheidene Gebühr ein, und Timmy durfte hundertvierzig Dollar mit nach Hause nehmen.
Er fuhr mit Mr. Bellamy heim, und als sie nach Brighton kamen, bestand er darauf, in demselben Gasthof einzukehren, wo sie am Tag zuvor ihre Cokes getrunken hatten. Sie wurden von den Gästen freudig begrüßt.
»Ich gehe zu Fuß nach Hause«, sagte er zu Mr. Bellamy, als sie in Line Camp angelangt waren. »Wenn
Sie mir nicht geholfen hätten, ich würde nie den Sieg errungen haben.« Er liebte große Worte, hatte aber bisher nie gewagt, sie zu gebrauchen. Jetzt aber war er ein Champion und brachte seiner Mutter einen schönen Batzen Geld nach Hause.
Es war eine milde Nacht, und der Mond stand am Himmel. Nach allen Seiten breiteten sich die großen Ebenen aus, und zum erstenmal begriff Timmy, warum sein Vater dieses Land, diese grausame und doch hinreißende Leere liebte.
Als er die kleine Anhöhe erreichte, die den Blick auf den Hof freigab, wunderte er sich, daß kein Licht zu sehen war, denn die Grebes ließen immer eine Lampe brennen, wenn ein Kind außer Haus war. Doch dann fiel ihm ein, wie geistesabwesend seine Mutter am Morgen zuvor gewirkt hatte - der Sturm und der Staub und die Einsamkeit hatten sie so zermürbt -, und darum überraschte es ihn nicht, daß sie darauf vergessen hatte. Doch als er näher kam, sah er, daß das Tor offenstand - eine Gedankenlosigkeit, die sein Vater nie zuließ.
Er bekam Angst und fing an zu laufen, und als er das entsetzliche Bild vor sich sah, schrie er. Seine Seele von wilder Verzweiflung zerrissen, stand er da und schrie, schrie zeitlose Minuten lang, und keiner hörte ihn.
Dann fing er wieder zu laufen an. Stammelnd, schluchzend, sich mit den Fäusten an die Brust schlagend, jagte er über die Felder,
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