Commedia und Einladungsband: I.Commedia. In deutscher Prosa von Kurt Flasch II.Einladung, Dante zu lesen (German Edition)
daß Dante statt luna auch Trivia sagt, bekommt man wieder Freude an dem hellklingenden Vers mit den vielen i und e. Das gibt Anlaß, an andere Mondgedichte zu denken:
Füllest wieder Busch und Tal
still mit Nebelglanz,
lösest endlich auch einmal
meine Seele ganz.
Oder:
Der Mond ist aufgegangen,
die goldnen Sternlein prangen
am Himmel hell und klar.
Dante spricht weniger gefühlvoll. Er nimmt weniger Bezug auf die Seele des Dichtenden. Er verfremdet mit Hilfe antiker Bilder und Namen: Der Mond als Trivia, die Sterne als Nymphen.
Ernst Robert Curtius beschrieb in seinem Buch Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (Bern 1948 und öfter) Dante als den zentralen Vermittler der antik-römischen Dichtung. Dante habe in der Commedia den Reichtum der römischen Literatur zusammengefaßt und einverwandelt; er habe ihn frisch erneuert und einen gesamteuropäischen Vorrat von Topoi geschaffen, der bis in die Gegenwart reiche. Dante sei deshalb der Begründer der antik-mittelalterlich-modernen Kontinuität; er wurde, Curtius zufolge, Stifter der europäischen literarischen Identität und ermöglichte erst die Nationalliteraturen. Das heißt: Dantes Commedia hat weltgeschichtliche Bedeutung, nicht nur italienisch-literarhistorische.
Ich sprach vom antiken Metaphernvorrat am Beispiel des Mondes, den die Fixsterne wie Nymphen begleiten. Dantes Dichtung ist Astropoesie wie seine Philosophie Astrometaphysik ist: Die Sterne sind das Ziel der Wanderung, und jeder der drei Teile endet mit dem Wort: die Sterne ( stelle ). Aber Dante rief auch historische Universen auf; er zitiert Namen nicht nur aus der antiken Literatur, sondern auch aus der realen Weltgeschichte. Er bringt ganze Listen historischer Personen, römischer Kaiser und ehemals guter lombardischer Adliger. Um die geschichtlichen Zusammenhänge zu erfassen, braucht der Leser einen Kommentar; aber je nachdem, wie er sich dazu verhält, erntet er Wissensplunder oder Poesie. Benedetto Croce unterschied in der Commedia Poesie und Historisches ( storia ). [791] Es ist danach üblich geworden, das zu bestreiten. Aber etwas ist dran. Croce stellte sich im Dante-Jahr 1921 gegen das Übermaß historisch-philologischer Erudition, das die Poesie verdecke. Er sah eine Spannung in der Commedia selbst; sie zeige einen Dualismus von Poesie und Struktur. Letztere sei bestimmt durch die kirchliche Lehre. Er fand einen Gegensatz von Poesie und historischen Stoffen. Manche haben dagegen eingewendet, Croce zerschneide die Dichtung in eine genießbare konkret-poetische und in eine abstrakt-theologische Schicht. Und er eliminiere historische Daten, die Dante wichtig waren. Und doch möchte ich Croce nicht zu rasch widersprechen. Dante, der Wanderer, sucht im Jenseits nach Florentinern; in der Hölle sind sie reichlich vorhanden. So ergibt sich ein Übergewicht lokal-florentiner Geschichten, die modernen Lesern erklärt werden müssen. Aber das gehört, meine ich, nicht schon zur ersten Lektüre. Denn was der Dichter Dante aus den historischen Vorlagen macht, ist das poetisch Entscheidende und unterscheidet sich von dem Bild, das sich uns heute aus historischen Dokumenten ergibt.
5.
Lehrdichtung
Die Commedia ist auch Lehrdichtung. Sie ist viel mehr als das; sie ist Prophetie und persönliche Erzählung, fingierter Reisebericht und politisches Pamphlet, aber sie ist auch Philosophie in dem weiten Sinn, den Dante dem Wort gab. Nicht, als habe er das Wort ›Philosophie‹ so vage genommen, wie man von der ›Philosophie des Pentagon‹ spricht. Das nicht. Wohl aber umfaßt bei ihm ›Philosophie‹ alles, was in der älteren Philosophie dazu gehörte, also auch Psychologie und Ökonomik, Naturwissen, Politik und Ethik. Dante läßt sich – zunehmend im Purgatorio und Paradiso – keine Gelegenheit entgehen, Physikalisches und Kosmologisches, Astrologisches, Theologisches und Philosophisches zu erörtern. Ihn reizt das Thema der Mondflecken. Umständlich legt er dar, wie trotz göttlicher Vorsehung die menschliche Willensfreiheit möglich ist. Aber er erörtert auch abgelegene Fragen, so im Paradiso die Gültigkeit und Austauschbarkeit von Ordensgelübden. Dabei beweist er zwar philosophischen Tiefgang und praktischen Verstand. Aber wir heute haben dieses Problem nur selten. Um die vielfältigen theoretischen Interessen Dantes in unser Verständnis seiner Dichtung zu integrieren, braucht es auch Philosophie-, Theologie- und Wissenschaftsgeschichte, es braucht Kenntnisse der
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