Commedia und Einladungsband: I.Commedia. In deutscher Prosa von Kurt Flasch II.Einladung, Dante zu lesen (German Edition)
mittelalterlichen Liturgie wie der Astronomie und Astrologie. Dies alles ist unentbehrlich fürs weitere Eindringen und die gelehrte Beschäftigung, aber es darf das freie Lesen nicht verhindern. Dieses hat Vorrang. Am Anfang darf es den Berg historischer Erudition auf sich beruhen lassen; er ist interessant und für ein fachliches Urteil unentbehrlich, aber zuvor und danach muß Dantes Poesie zur Geltung kommen.
6.
Altertümelnde Übersetzungen
Die meisten Übersetzungen lassen Dante älter aussehen, als er ist. Sie glauben zuweilen, Dante einen Gefallen zu tun, indem sie ihm eine antiquierte Sprache verleihen. Sie lassen Dante gern altertümelnd und feierlich reden. Als Karl Streckfuß im Jahr 1824 die erste der heute noch gelesenen Übersetzungen der Hölle vorlegte, machte er auf den Einwand, seine Sprache sei zu modern, das Zugeständnis:
»Das Bild des Originals würde treuer hervortreten, wenn es dem Übersetzer möglich gewesen wäre, die Sprache alterthümlicher zu halten.« Er entschuldigte sich geradezu, daß er in die Sprache der »altdeutschen Poesie« sich nicht genug habe einarbeiten können, um seiner Dante-Übersetzung die gewünschte altertümliche Sprache zu geben. Er gestand aber ein, das archaisierende Übersetzen führe leicht zur »Ziererei«. [792]
Altertümliche Sprache als Ideal der Dante-Übersetzung – dieses Programm ist im 20. Jahrhundert nicht verschwunden; Rudolf Borchardt hat es mit verbissener Konsequenz noch 1930 verfolgt.
Eine andere Tendenz verfremdet Dante in der Übersetzung noch mehr, nämlich die, ihn ins Hohe zu stilisieren; mancher Übersetzer legte hinein, was er für Poesie hielt, und machte Dante weicher, gefälliger, glatter, als er ist. Andere Übersetzer, wie George und Borchardt, erfanden eine Art Gegensprache gegen das nach konventionellen Mustern gemodelte Lyrische und erschwerten das Verständnis. Auf das Problem der Dante-Übersetzung komme ich zurück.
7.
Grausamkeiten
Wir sind heute an die Darstellung von Grausamkeit gewöhnt, aber es gibt in den tiefsten Höllenkreisen Szenen, die auch für heutige Krimileser hart sind: Aufgeschlitzte Menschenleiber laufen herum mit heraushängendem Gedärme. Menschenkörper verwandeln sich schlimmer noch als Kafkas Gregor zum Käfer. Goethe sprach von Dantes »widerwärtiger, oft abscheulicher Großheit«. [793]
Mehr als die grausamen Details der Hölle befremdet heute der Gedanke, daß der Gott Dantes den Verdammten endlose körperliche Qualen zufügen läßt, die nicht deren Erziehung dienen, sondern ewig das ›gerechte‹ Urteil exekutieren. Dante zufolge hat Gott den Seelen einen luftartigen Scheinleib verschafft, damit sie unter Feuer und Eis leiden können, und zwar so, daß kein zweiter Tod sie erlöst. Sie rufen nach dem zweiten Tod, z.B. Inferno 13, 118 , aber der tritt nicht ein, denn ihre Schmerzen sind so kunstvoll dosiert, daß sie ihren Luftkörper nicht vernichten. Ihr Leiden soll ewig fortdauern. Ist dieses Strafsystem mit der Güte Gottes vereinbar? Man könnte es damit rechtfertigen, daß in der Hölle Dantes keine kleinen Ladendiebe zu finden sind, sondern nur große Untäter, wenn wir von Francesca einmal absehen. Doch das systematische Quälen findet sich auch im Purgatorio: Dort ist es zeitlich begrenzt und soll die reinigende Einsicht fördern, aber immerhin wurden den Neidischen die Augenlider mit Draht zugenäht, weil sie das Glück von Mitmenschen schief angesehen haben (Purg. 13) . Dantes göttliche Strafjustiz entspricht nicht unseren Rechtsanschauungen; sie verbindet zu eng ›Gerechtigkeit‹ mit ewiger Strafe, und dabei hatte schon Origenes im 2. Jahrhundert diese Verbindung angezweifelt, aber Origenes wurde im 5. Jahrhundert kirchlich verworfen, und Dante unterwarf sich nicht nur dem gegen Origenes mächtigeren System von Strafe und Schmerzzufügen, sondern entfaltete in dessen Darstellung seine Phantasie. Sein Interesse an Quälerei stört.
8.
Bilder vom Mittelalter ›niederreißen‹
Ich empfehle, erst einmal nachzudenken, was Poesie ist und was man von ihr erwartet. Das ist gewiß ein weites Feld, aber es ist schon etwas, wenn man sich klarmacht: Poesie ist gestaltete Sprache; sie ist geregelter Rhythmus und kunstvoll hergestellter sinnlicher Klang. Sie will nicht nur informieren; sie hat eine andere Sprache als der Alltag. Sie ringt dem gewöhnlichen Sprachgebrauch etwas ab, was dieser nicht kennt.
Sie nimmt den Leser hinein in eine Erfahrung; sie ergreift; sie
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