Commedia und Einladungsband: I.Commedia. In deutscher Prosa von Kurt Flasch II.Einladung, Dante zu lesen (German Edition)
löst Gefühle und Einsichten aus, manchmal auch Handlungen. Um sie aufzunehmen, ist eine gewisse Lockerung der Seele, eine Befreiung von Alltagszwecken nötig. Vielleicht ist das die Hauptstrapaze, sich freizuhalten, um vier Wochen lang im Jenseits zu wandern und zuzusehen, wie sich die irdische Welt von dort ausnimmt. Für den gesunden Menschenverstand ist eine solche Ablenkung, ein solcher Umweg, verrückt. Aber es ist die Verrücktheit der Poesie, wie sie auch ein dreizeiliges Gedicht von Ungaretti verlangt, erst recht Faust II. Dichten ist ein ›Übermut‹. Dieses Wort sollte der Dante-Leser buchstabieren: Diese Dichtung ist Mut, sie überspringt Gewohnheiten. Sie geht ungewohnt weit. Um es offen zu sagen: Sie ist maßlos: Sie vergöttert Beatrice, und sie wünscht, daß Florenz und Pisa zerstört werden. Aber sie geht auch darüber hinaus. Sie gestaltet diese Exzesse künstlerisch in großer Form. Sie ist Über-Mut.
Ich habe nun so viel von den Schwierigkeiten gesprochen, Dantes Commedia zu lesen. Aber ich habe mit meinem ›Vorspiel‹ auch einen praktischen Vorschlag auf den Tisch gelegt: Der Leser werfe sich auf die canti 5 , 26 und 32 / 33 des Inferno .
Das Ziel ist, Dante als Dichter zu lesen und aufzufassen. Dabei darf er alle zusätzlichen Erklärungen und Fußnoten ignorieren. Beim zweiten Durchgang mag er sie schätzen und zuletzt wieder vergessen.
Ich empfehle als zweiten Schritt der Annäherung an Dantes Commedia den Einblick in die geschichtliche Welt von 1265 bis 1350. Ich gebe ihn im zweiten Kapitel dieses Buches in geraffter Form. Der Leser bekommt so ein faßliches Koordinatensystem, das er später verlassen kann. Er tritt in eine Welt, die anders ist, als die meisten Menschen sich vorstellen, gerade dann, wenn sie sich bemühen, Dante in der ›mittelalterlichen Welt‹ zu denken. Dantes Zeit waren Jahrzehnte rasanter Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung. Städtebewohner machten die Erfahrung realer Armut als Skandal neben dem Reichtum der Kirche. Die franziskanische Bewegung breitete sich aus. Städte reagierten mit dem Bau von Spitälern. Päpste wie Bonifaz VIII. entwickelten ihre Weltmachtideen; sie proklamierten sich zu auch politischen Herren von Kaisern und Königen, aber die gleiche Zeit entdeckte mit Hilfe des Aristoteles die ethischen Grundlagen der weltlichen Macht. Zugleich wurde das Verlangen nach einer ›geistlichen Kirche‹ (ecclesia spiritualis) laut. 1309 verlegte der Papst die Kurie nach Avignon. Um Dante nicht isoliert zu betrachten, auch wegen seiner Wirkungen auf Petrarca und Boccaccio, sollte der geschichtliche Blick nicht bei 1321 stehenbleiben, sondern weitergehen bis etwa 1375, dem Todesjahr Boccaccios:
Ein langanhaltender Boom ging zu Ende mit der Wirtschaftskrise 1340/41, dann kam die Pest von 1349/50. Karl IV. brachte es in Prag zu neuer Kaiserherrlichkeit, von 1346 bis 1378. Aber die kam nicht Italien, sondern Böhmen zugute; über die Hausmachtpolitik des Kaisers wurde am Rhein gemurrt.
Die rasante soziale und intellektuelle Entwicklung von 1250 bis etwa 1350 dementiert einen starken Epochenbegriff ›Mittelalter‹, d.h. ein Konzept, aus dem man irgend etwas ableiten könnte. Es ist besser zu wissen, daß man nicht weiß, was ›mittelalterlich‹ war. Man beginnt dann, sich Situationen, Ereignisse, Personen und Texte einzeln anzuschauen. Wer auf den starken Epochenbegriff ›Mittelalter‹ verzichtet, lernt auf das Reißen der Zeit zu achten, das zwischen 1250 und 1350 von besonderer Heftigkeit war. [794]
Das ›historische Vorspiel zur Dante-Lektüre‹, das ich empfehle, besteht nicht in einer Kurzbeschreibung › des Mittelalters‹. Manche älteren Autoren hielten es für ›wissenschaftlich‹, literarische Texte in Zeitalterbilder einzuordnen. Sie nahmen Epochenbilder als Leitlinien der Interpretation. Dante erschien dann als ›mittelalterlich‹, gar als ›der Repräsentant des mittelalterlichen Geistes‹. Andere wollten ihn als Vorboten der Moderne oder stellten dem ›mittelalterlichen‹ Dante Boccaccio als ›modern‹ entgegen. Vittore Branca setzte zum Gegenschlag an und beanspruchte auch Boccaccio als mittelalterlich: Boccaccio medievale , zuerst Florenz 1956.
Solche Zuordnungen galten oft als das eigentliche, das ›wissenschaftliche‹ Erkenntnisziel bezüglich der Dichtung. Aber die geschichtliche und ästhetische Realität deckt diese Operationen nicht. Epochenbilder sind anfechtbar. Wann begann in Cagliari die
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