Commedia und Einladungsband: I.Commedia. In deutscher Prosa von Kurt Flasch II.Einladung, Dante zu lesen (German Edition)
Renaissance? Die denkerische Aufgabe besteht nicht in der Anwendung vorhandener geistesgeschichtlicher Abstraktionen auf Texte, sondern in deren Freilegung. Es geht ums besonnene Weglassen des ihnen Zugefügten. Lessing machte einmal die Bemerkung, es sei die »Schwachheit der meisten, mehr Gefallen am Aufbauen als am Niederreißen zu finden«. [795] Natürlich dachte er nicht an blindes Niederreißen, sondern ans Niederlegen von Mauern, die den Blick versperren. Eine solche Mauer war und ist der Epochenbegriff beim Auslegen Dantes. Statt seiner sind Texte zurückzubeziehen auf konkrete Daten, nicht auf Epochenbilder oder Strömungsnamen. Wer weiterkommen will im Verständnis Dantes, legt Text neben Text. Texte spiegeln sich ineinander, empirisch-historisch, ästhetisch und philosophisch. Die großen Vereinnahmungen Dantes – sei’s als italienischer Nationalheros, sei’s als Reichsdenker, sei’s als christlicher Dichter – haben viele Redensarten in die Welt gebracht; sie sind erst einmal zu vergessen zugunsten von sprachlicher und historischer Einarbeitung. Populäre Mittelalterbilder wie die der Harmonie von Kirche und Staat, das Wunschbild von der Übereinstimmung von Glaube und Vernunft oder von einem Leben, das voll war von ›Symbolismus‹, Zahlenmystik oder Templeresoterik, halte ich zunächst einmal fern.
9.
Zunächst die großen Figuren, dann der Rahmen
Der Leser der Commedia wird mit dem Anfang, also mit dem Inferno , beginnen, und darf sich für den Anfang eine personenorientierte, fast impressionistisch-leichte Auswahllektüre erlauben. Ich habe ihm vorgeschlagen, mit den canti 5 , 26 und 32 / 33 zu beginnen. Und dabei alle historischen oder sonstigen Details zunächst auf sich beruhen zu lassen. Sich ›Informationen‹ zu beschaffen, ist heute leichter, als sich zweckfrei Dantes Erfindungen zu überlassen. Die genannten canti zeigen, wie Dante vom Jenseits aus die irdische Welt sah. Hier spricht Dante nicht als Ideologe oder Theologe, sondern als Schöpfer plastischer Gestalten. Diese Texte zerstören das Einheitsbild von ›Mittelalter‹, diese moderne, diese nostalgische oder despektierliche Abstraktion. Besser spricht man von Jahren und Jahrzehnten, von einzelnen Zentren, Autoren und Kulturlandschaften. Das ›Mittelalter‹ gab es nicht. Reißen wir diese Mauer ein. Widmen wir uns im Detail Dantes sprachlicher Kunst, seinen Metaphern und sinnlichen Klängen, seinen politischen Visionen und philosophischen Spekulationen.
Das sei der erste Schritt: Die eindrucksvollen Figuren des Inferno wahrzunehmen. Wer dabei bliebe, verfiele der romantischen Dante-Rezeption, die sich vor allem der Francesca annahm. Die Isolierung der großen Gestalten, als erster Schritt empfehlenswert, ist im zweiten Schritt sanft zurückzunehmen; der Wanderer steigt auf, vom Inferno durch das Purgatorio zum Paradiso . Er begreift zunehmend, daß Hölle, Läuterungsberg und Paradies nicht das Jenseits meinen, sondern die irdische Welt. Auf den ersten Blick handelt die Commedia zwar vom Schicksal der Seelen nach dem Tod. Bei näherem Hinsehen zeigt sie Weltverhältnisse wie Liebe, Familie oder Wissenwollen, in denen Menschen leben und die sie vernünftig oder unvernünftig ordnen.
Es handelt sich um canti, um Gesänge. Es sind, Dante zufolge, die Musen selbst, die sie singen. Der freie Leser wird sich klarmachen, daß er in eine Welt erfundener Wahrheit eintritt. Der Fachmann muß sich vorher überlegen, ob und wie weit er Gesängen die Schrauben seiner fachwissenschaftlichen Terminologie anlegen darf. Wer sie ins Deutsche überträgt, sollte sich fragen, ob er lyrische Gedichte in Prosa übersetzen darf. Fraglich ist weiterhin, ob – das ist nun in Distanz zu Curtius gesagt – ob ein prophetisches Werk, das zugleich eine politische Intervention sein will, aus Mosaiksteinen antiker, aber für überzeitlich gehaltener Topoi zusammengesetzt ist. Dann ertränke die Commedia im Überzeitlichen. Dann wäre der zweite Schritt der von mir vorgeschlagenen Einführung – die Kenntnis der historischen Welt, aus der Dante kam und gegen die er sich stellte – überflüssig. Dann hätte Geschichte mit Dantes ›Poesie‹ nichts zu tun. Aber so individuell die Commedia konzipiert und so poetisch sie gestaltet ist, sie ist auch ein Produkt der Florentinischen Krise und des Exils. Sie ist gerade als unableitbare Poesie ein eminent historisches Konstrukt. Und sie errichtet ein neues Weltgebäude mit antiken Bausteinen.
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