Commedia und Einladungsband: I.Commedia. In deutscher Prosa von Kurt Flasch II.Einladung, Dante zu lesen (German Edition)
Aber das Wort ›Weltgebäude‹ ist einseitig bis falsch: Dantes Buch ist ein ethisch-politischer Aufruf in den Zerwürfnissen Italiens zu Beginn des 14. Jahrhunderts. Es geht um Praxis. Um Erneuerung des daniederliegenden Italien, dem die moralische Führung fehlt. In dieser Notlage beansprucht die Poesie Lebensleitung. Sie übernimmt die Stelle, die durch Korruption der Kirche vakant geworden ist. Sie führt ein poetisches Spiel auf und hält dabei mehrere Bälle – Philosophie, Prophetie, Analyse des politischen Status quo, Erneuerung der Antike, Verwirklichung des Franziskanismus – immer gleichzeitig in der Luft.
Dies will studiert, nicht nur genossen werden. Daher braucht es einen zweiten Durchgang. Dabei ist über die einzelnen Episoden hinauszugehen und zunächst auf den Bauplan zu achten: Drei Teile, 100 Gesänge. Hinab und hinauf geht es in Stufen: Die Verdammten stürzen hinunter in die Hölle nach Lasterkatalog; der Aufstieg im Läuterungsberg orientiert sich an Tugend- und Lasterbildern; die Stufen des Paradieses ergeben sich aus Sternkreisen oder Himmelsschalen.
Die Commedia ist streng strukturiert. Daher braucht der Leser im zweiten Anlauf die Baupläne der geordneten drei Reiche. Dabei kommt er – phasenweise – nicht um die schematischen Umrisse herum, die in Dante-Bildern eine große, wohl zu große Rolle spielen. Die Schemata der Höllenkreise, der Purgatoriostufen und der Paradiesesränge brauchen wir, aber sie sind dann wieder zurückzustellen zugunsten der Individuen und der theoretischen Reflexion, der Reimschönheit und des Spiels der Metaphern. Das Verhältnis von übergeordnetem Ordnungsrahmen zur poetischen Invention und zu den Individualitäten ist sorgfältig auszutarieren. Hier lauern Gefahren, die ich im einzelnen vorführen werde.
10.
Dante genießen
Aber zuvor möchte ich anleiten, die Commedia zu genießen. Sie will ernst, aber nicht bärbeißig gelesen werden. Sie hat die Heiterkeit eines vollendeten Kunstwerks. Sie hat eine mathematische Struktur, aber es wird gut sein, nicht mit dem Zählen und Rechnen anzufangen, sondern Helligkeit und Ebenmaß zu bewundern und sich zu freuen an schönen, charakteristisch-dantesken Einzelheiten. Ich greife probeweise einige heraus:
Im Purgatorio (5, 130–136 ) drängen sich die Seelen an Dante heran, wie an jemanden, der im Lotto das große Los gezogen hat. Alle wollen von ihm Informationen, alle wollen, daß er auf der Erde Menschen finde, die für ihre arme Seele beten. Mit großer Selbstverständlichkeit erzählen sie ihm ihre Geschichte, an deren Wichtigkeit sie nicht zweifeln. Anders Pia, von der wir sonst fast nichts wissen. Sie ist ermordet worden von ihrem Ehemann; man sagte, er habe sie aus dem Burgfenster stoßen lassen. Wie kurz, wie prägnant erzählt sie das:
»Ach du, wenn du zur Welt zurückgekehrt bist und dich ausgeruht hast von dem weiten Weg«, … »erinnere dich an mich. Siena gebar mich, die Maremma tötete mich. Mehr weiß der, der mir zuerst den Ring anlegte und mich zu seiner Frau gemacht hat mit seinem Wappen.« [796]
Wie die beiden Männer vor ihr bittet sie Dante um Hilfe, aber zuvor gibt sie ihm den Rat, er solle sich zuerst ausruhen nach seiner beschwerlichen Reise. Die sienesische Sängerin Gianna Nannini hat 2007 zusammen mit der Schriftstellerin Pia Pera ein Album veröffentlicht, in dem sie die Geschichte der Pia weiterdenkt und besingt: Pia come la canto io. [797]
Oder Dante kritisiert den Zustand der Studien. Alle möchten Juristen oder Mediziner werden; sie wollen Macht ausüben und durch Wissen Geld verdienen. Dante sagt das so: Sie wollen herrschen, entweder mit Gewalt oder mit Sophismen (Par. 11, 6) . Das ist eine von Dantes Kurzformeln für die verkehrte akademische Welt. Schroff, knapp, dantesk.
Strukturen und Hierarchien, die Personen und ihre Situationen, dramatische Szenen und stille Metaphern bilden das Gewebe der Commedia ; aber Dante redet auch oft von sich selbst. Diese autobiographischen Zeilen, diese Sorge um seine Zukunft und der Schmerz, aus Florenz vertrieben zu sein, das unterlegt dem gewaltigen Aufbau der Commedia den schlicht-menschlichen Ton der Trauer und des Ausgeschlossenseins. Es geht immer auch um Dante, dessen Namen nur ein einziges Mal fällt, der aber von sich nicht schweigen kann. Dem Wanderer Dante wird mehrfach das bleibende Exil angekündigt – durch Ciacco, Farinata, Brunetto und Cacciaguida.
Es gibt Dante-Darstellungen, die ihre
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