Commedia und Einladungsband: I.Commedia. In deutscher Prosa von Kurt Flasch II.Einladung, Dante zu lesen (German Edition)
Sie ist aber überzeugt, daß die Seele Guiskards sie erwartet.
Sie nimmt das Gift, zelebriert ihre Selbsttötung, zeremoniell. Die Dienerinnen unterrichten Tankred, er kommt und beginnt heftig zu weinen.
60 Aber die vornehme junge Frau sagte ihm: »Tankred, hebe dir diese Tränen auf für ein Geschick, das weniger herbeigesehnt worden ist als meines. Hebe sie für einen anderen auf, ich will sie nicht. Wie kann man beweinen, was man selbst gewollt hat? Außer bei dir hat das noch nie jemand gesehen.«
Sie bittet darum, mit Guiskard begraben zu werden. Das wird ihr gewährt.
Boccaccio sieht Ghismonda nicht in der souveränen Position Beatrices, sondern im Verhältnis zu ihrem Vater, der denkt, die Tochter gehöre ihm. Boccaccio denkt das Liebespaar antikisierend im Konflikt zwischen den beiden Weltmächten Fortuna und Amor, ausgetragen an einem kleinen Diener am Hof. Boccaccio verfolgt nicht die innere Entwicklung Guiskards; ihn interessiert die Frau in ihrem Verhältnis zum Vater. Der läßt Guiskard gefangennehmen, sucht Ghismonda in ihren Gemächern auf und wirft ihr zweierlei vor: unverheiratet mit einem Mann geschlafen zu haben, und dann auch noch mit einem Mann niederster Rangstufe. Auf beide Punkte geht sie argumentierend ein.
Das Herz in goldener Schale und die Bestattung durch Tränen stellen diese Novelle in die Nähe des volkstümlichen Stils der Elisabetta-Geschichte, aber Ghismonda hebt den Konflikt auf eine theoretische Ebene. In ihrer Rede argumentiert sie scholastisch wie Beatrice, beweisend und widerlegend. Sie kehrt die Verhältnisse um – zwischen Vater und Tochter, Souverän und Abhängiger, zwischen Täter und Opfer. Sie redet den Fürst mit Vornamen an, was sich nicht gehörte; sie, die Frau, belehrt den Vater. Sie verteidigt ihr Recht auf Jugend und auf geschlechtliche Liebe; sie beruft sich auf die Natur, der zu widerstehen sinnlos ist, der zu folgen keine Sünde sein kann. Sie spricht von einer naturgemäßen Sünde , einem natural peccato (§ 35). Wenn sie der Natur entspricht, ist sie gerechtfertigt. Beide weinen, aber sie beherrscht ihr Weinen, er zerfließt. Auf den doppelten Vorwurf antwortet sie ausführlich mit einem doppelten Argument:
Erstens: Sie ist jung, ist aus Fleisch und Blut, kennt aus ihrer kurzen Ehe den Genuß der Sexualität, zu der die Natur selbst treibt. Sie verteidigt ihre Liebe, ihre körperliche Liebe; sie weist es zurück, sie entstamme ihrer weiblichen Schwäche, feminile fragilità (§ 32), nein, sie hat nachgedacht, die Hofleute kritisch besehen und frei gewählt. Sie hat beschlossen, sich zu verlieben, sie ist nicht zufällig, per accidente , an Guiskard geraten (§ 37). Sie bekennt sich zu ihrem Recht auf sexuelle Selbstbestimmung, concupiscibile desiderio (§ 34).
Zweitens: Tankred habe den konventionellen, den falschen Begriff von Adel. Adel bemesse sich in Wahrheit nach virtù , Tüchtigkeit und Tugend, nicht nach sozialem Rang und Reichtum. Adel ist mit Armut vereinbar. Tankred teilt die populären Vorstellungen von der Armut, aber sie unterliege der Fortuna und sage nichts über den Wert des Menschen. Macht und Reichtum sind zufällig, sind fortunabedingt; sie zählen nicht gegenüber dem wahren Adel, der virtù . Das sind Dantes Ideen, vor allem aus dem Convivio.
Ghismondas Suizid bleibt außerhalb der Diskussion. Seine Rechtfertigung bedarf keiner Worte – so wenig wie bei Cato in Dantes Purgatorio . Die Todesbereitschaft gibt ihr wie der Filippa die Unabhängigkeit; sie bettelt nicht um Nachsicht. Sie schließt mit ihrem Leben selbständig ab. Sie spricht frei und stolz, der Vater weinerlich und aus Selbstmitleid. Sie vertauscht die Rollen – von Oben und Unten, von Subjekt und Objekt der Handlung –, indem sie Wahrheit, Natur und Eigenwillen gegen Konvention, Macht und Reichtum stellt. Ghismonda verbindet in ihrer explizit theoretischen Position den Naturalismus körperlicher Liebe mit dem Selbstbewußtsein des hochgemuten Sinns, des animo altiero , der von wunderbarer Kraft, meravigliosa forza , sei und sich durchsetze gegenüber Zwang und Gefühlsschwäche (§ 30). Der Naturalismus in Ghismondas Rede stammt nicht von Dante, sondern aus antiken Quellen und Texten des 12. Jahrhunderts, die Boccaccio gründlich kannte; aber die Konzepte von Willensfreiheit, von Adel, von Reichtum und Armut sind die Dantes. Aber das ideengeschichtliche Ereignis ist: Eine Frau eignet sich das von der Philosophie ermöglichte Selbstbewußtsein eines
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