Commissaire-Llob 1 - Morituri
Tag für Tag aussetzt, durchleuch-tet mit kritischem Blick die Einheitspartei, stellt die Finanzmafia an den Pranger und verdammt das todbringende Werk der Fundamentalisten. Er „spricht“ über die sozialen Ungerechtigkeiten in seiner Heimat, über die Misere der armen Bevölkerungsschichten, die Frustration der arbeitslosen Jugendlichen, die Brutalität des herrschenden Bürgerkriegs und die triste Lage in Algier. Die als „weiße Stadt“ bekannte Hauptstadt hat in Morituri ihren ehemaligen Glanz längst verloren, sie zeigt sich in
„Schwarz“, ist gezeichnet von Angst, Schrecken, Trauer und Tod.
Am Ende des Romans läßt Yasmina Khadra ihren Commissai-
re Llob ein dreigliedriges Instanzensystem für die Wahrung der Gerechtigkeit präsentieren, das sich aus dem eigenen Gewissen, der Gerichtsbarkeit und letztlich Gott zusammensetzt. Indem Llob den Hauptverantwortlichen für die Verbrechen eigenmächtig tötet, wird unausgesprochen eine weitere Instanz zwischen die Gerichtsbarkeit als institutionalisiertes System zur Wahrung der Gerechtigkeit einerseits und der göttlichen Gerechtigkeit andererseits eingeführt, nämlich die Selbstjustiz. Als letzter Ausweg wird diese Form von Gerechtigkeit als personifiziertes, von niederen, radikalen oder korrupten Ideen freies, gerechtes Volksempfinden präsentiert. Llob selbst jedoch scheint sich der Dimension seines Handelns nicht bewußt zu sein, hofft er doch nur, damit den Täter der göttlichen Instanz und somit der ge-rechten Bestrafung zuzuführen, nachdem das Gewissen des Verbrechers bereits versagt hat und von der algerischen Gerichtsbarkeit als zweiter Instanz erfahrungsgemäß keine Gerechtigkeit zu erwarten ist. Eine solche Zwischeninstanz ist nicht nur als Absage an das etablierte, verfassungsmäßig legitimierte Staatsgefüge – die Gerichtsbarkeit ist als eine tragende Säule desselben anzusehen – zu interpretieren, sondern auch als eine Anklage der Regierungsverantwortlichen, die nicht in der Lage sind, einen funktionierenden Rechtsstaat aufrechtzuerhalten.
Mögen noch so hehre Werte und reine Ideale hinter der Entscheidung stehen, so kann aber auch Selbstjustiz nicht der richtige Weg sein. Die Gefahren, die mit einer solchen Vorgehens-weise verbunden sind, sind unabsehbar, gilt es doch zu Recht als eine der bedeutendsten Errungenschaften moderner Sozialsys-teme, den Schritt von individuell verschiedenen Wertungen als letztem Handlungsmaßstab hin zum kollektiv legitimierten Wer-tesystem eines modernen Rechtsstaats gemacht zu haben. Somit bringt Yasmina Khadra den Konflikt in ihrer Heimat in der Schlußszene noch einmal auf den Punkt und verdeutlicht auf sehr eindringliche Art und Weise, daß die Krise in Algerien die Grundfesten des Gesellschaftssystems durchdrungen und deren grundlegende Werte zunichte gemacht hat. Llob selbst spricht sich zwar im Laufe des Romans explizit gegen den Weg der Vergeltung aus, würde dies doch bedeuten, selbst zum Mörder zu werden und sich an dem blutigen Spiel zu beteiligen. In einem Land, in dem sich die justice, die Gerechtigkeit, aber auch das Recht, an den Meistbietenden verkauft – wie Salah Doba die Lage in Algerien beschreibt –, hat aber auch Commissaire Llob keine Wahl. Wenn ihm in der Schlußszene, der im Kriminalroman üblicherweise eine besondere Bedeutung zukommt, nur Selbstjustiz als letzter Ausweg bleibt, so verdeutlicht das Ende von Morituri umso drastischer den Ernst der Lage in Algerien, wo offenbar der Gerechtigkeit im Kleinen nur mehr über einen fatalen Rückschritt im Großen Raum gelassen wird.
Beate Burtscher-Bechter
Innsbruck, im August 1999
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