Commissaire-Llob 1 - Morituri
libération nationale –
Nationale Befreiungsfront), einer stetig ansteigenden Bevölke-rungszahl und einer anhaltenden Wirtschaftskrise geprägt. Lange Jahre hindurch wurde der Agrarsektor zugunsten der Indust-rialisierung des Landes sträflich vernachlässigt, und der Staat stellte für den Bau von Wohnungen, für die Schaffung kulturel-ler und sozialer Einrichtungen oder für den Ausbau der Ver-kehrsinfrastruktur nur sehr geringe Mittel zur Verfügung. Die Notwendigkeit immer höherer Nahrungsmittelimporte einerseits und die sinkenden Einnahmen aus dem Erdölgeschäft als einziger Exportquelle Algeriens andererseits ließen die Auslandsver-schuldung weiter anwachsen und führten das Land in eine dau-erhafte Krise.
All diese Umstände, verbunden mit einer enorm hohen Ju-
gendarbeitslosigkeit – drei Viertel der algerischen Bevölkerung waren 1988 jünger als 25 Jahre –, führten im Oktober ’88 zu Aufständen, die sich von Algier aus auf die anderen Städte aus-dehnten und das Land in ein seit dem Unabhängigkeitskrieg nicht mehr dagewesenes Chaos stürzten. Das algerische Volk forderte politische und wirtschaftliche Reformen, schrie auf offener Straße nach Freiheit und Demokratie. Angesichts der Folgen, die die Aufstände nach sich zogen, wird das Jahr 1988
gemeinhin als Wendepunkt in der Geschichte des jungen Staates angesehen, denn die Ereignisse des Oktober ’88 leiteten eine neue Epoche in der algerischen Politik ein. Im Zuge des einset-zenden Demokratisierungsprozesses kam es unter anderem zu mehr Presse- und Versammlungsfreiheit und zu einer Liberali-sierung des Parteiensystems, welche unter anderem zur Legali-sierung des FIS ( Front islamique du salut – Islamische Heils-front) führte.
Die Gemeindewahlen im Juni 1990 bescherten dem FLN denn auch eine beschämende Niederlage, dem FIS hingegen einen überlegenen Sieg. Auch das Ergebnis des ersten Wahldurch-gangs der Parlamentswahlen im Dezember 1991 brachte eine Absage an den seit rund dreißig Jahren allein herrschenden FLN
und dessen korrupten Beamtenapparat und ließ die Oppositions-partei FIS als Sieger hervorgehen. Von nun an ging es Schlag auf Schlag. Im Jänner 1992 wurde der algerische Staatschef Chadli Bendjedid von der Armee zum Abdanken gezwungen.
Der zweite Durchgang der Parlamentswahlen wurde annulliert und der Ausnahmezustand über das Land verhängt. Im März desselben Jahres wurde der FIS als Partei verboten. Im August 1992 forderte ein Bombenattentat am Flughafen von Algier, das den islamischen Fundamentalisten zugeschrieben wurde, zehn Menschenleben und zahlreiche Verletzte.
Dieses Attentat bildete den Auftakt für die blutigen Auseinan-dersetzungen, die sich die militanten Anhänger des FIS und die algerische Armee seither liefern und die das Land in einen Bürgerkrieg stürzten. Gezielte Attentate und Terroranschläge prä-
gen bis heute den algerischen Alltag, begleitet von einem florie-renden Schwarzmarkt, von einer ständig zunehmenden Jugendarbeitslosigkeit, einer nicht zu stoppenden Bevölkerungsexplo-sion und einer anhaltenden Wohnungsknappheit. Dazu gesellen sich die Machenschaften einflußreicher Politiker und der Finanzmafia sowie die permanente Angst vor Massakern, Entführungen und Terroranschlägen, die sich unter der algerischen Bevölkerung breitgemacht hat.
Diese Ereignisse bilden den Hintergrund für die Handlung von Morituri und zwei weiteren Kriminalromanen – Double blanc und L’Automne des chimères – von Yasmina Khadra, deren französische Originalfassungen nur kurz nach Morituri im September 1997 beziehungsweise im Mai 1998 in Paris erschie-nen sind. Das aktuelle Geschehen in Algerien wird in diesen drei Romanen, die inhaltlich eine Einheit bilden, aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet und kritisch kommentiert. Dabei ist es der Autorin ein Anliegen, der Komplexität des blutigen Konflikts gerecht zu werden und dem Leser ein differenziertes Bild der Situation zu liefern. Sie zählt somit zu jener Generation von frankophonen algerischen Autorinnen und Autoren, die die Kriegssituation in ihrer Heimat zum Thema ihrer Werke machen und die unter dem Schlagwort einer écriture d’urgence, eines (ein)dringlichen Schreibens beziehungsweise eines Schreibens in einer Notsituation zusammengefaßt werden können.
Diese écriture d’urgence wird in Morituri zu einem cri d’urgence, zu einem mahnenden und verzweifelten Aufschrei, der auch und vor allem außerhalb ihrer Heimat gehört werden soll.
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