Commissaire-Llob 1 - Morituri
voran-
treibt, ist einzig der Wunsch, der Nation in den
Hintern zu treten, damit diese nicht in ihrer eigenen
Scheiße einschläft.“
Ich weiß nicht, was plötzlich über mich kommt.
Die Wut, die mir zuvor geholfen hatte, die Angst
des Wartens zu überstehen, die Gedanken und
Worte, die mich auf dem Diwan noch angestachelt
hatten, sind plötzlich verpufft, wie fortgeblasen,
und lassen in mir eine große Leere zurück. Der
Dreckskerl macht mir Angst. Sein Blick schüchtert
mich ein, am liebsten würde ich mich unter die
Erde verkriechen. Es fehlte nicht viel und ich näh-
me, sobald er die Hand hebt, die Beine unter den
Arm, ohne mich auch nur einmal umzusehen. Die-
ses Scheusal, dieses Ungeheuer, hat uns dreißig
Jahre lang wie Sachen behandelt. Ich kann kaum
glauben, daß ich noch immer aufrecht vor ihm ste-
he.
Und er redet und redet in einem fort … In mei-
nem Kopf brodelt es. Vereinzelt blitzen hier und da
Satzfetzen auf, gehen unter, kommen wieder hoch:
„Jedes Land braucht eine Krise, um sich zu er-
neuern. Natürlich gibt es Scherben. Doch was ist
eine Handvoll Märtyrer schon gegen eine Wieder-
geburt? Sozusagen eine Notwendigkeit. Es stärkt
den Glauben an die Heimat und bereitet auf die
Opfer von morgen vor. (…) Die einzigen Aufga-
ben, die dem Volk zufallen, sind die Wahlen und
der Krieg. (…) Sie sind ein Idealist, Monsieur
Llob. Sie haben eine utopische Vorstellung vom
Patriotismus. Überhaupt sind Sie selbst völlig ob-
solet. (…) Die Welt wandelt sich nach Maßgabe
ihrer Bedürfnisse. Die Nation wird fortan nur nach
dem beurteilt, was sie dem einzelnen bringt. Das ist
ihre einzige Chance, ihre Überlebensgarantie. Heu-
te schindet sich unser Land bis aufs Blut, um mit
einem Kaiserschnitt das neue Algerien zu gebären,
das Algerien von morgen – modern, stark, ehrgei-
zig. 1954 hatten wir einen schlechten Start. Unsere
Revolution war ein einziges Fiasko. Der Beweis:
nichts als Regression, Totalitarismus und Mittel-
maß nach dreißig Jahren Unabhängigkeit. Dieser
Krieg ist kein Fluch. Er ist ein unverhoffter
Glücksfall, eine unerhörte Chance, ein Wink der
Vorsehung. Wir stellen uns ihm. Wir führen ihn. Er
ist unsere Visitenkarte, der Preis, den wir zahlen,
damit man uns nicht von der neuen Weltordnung
ausschließt. Wer von der Karikatur eines sozialisti-
schen Systems auf den offenen Weltmarkt drängt,
hat den Tribut zu entrichten. Und das machen wir
gerade. Wir werden ein Land aufbauen, das es ver-
steht, seine Chancen auszuhandeln, ohne sich
kleinmachen zu müssen, denn Zugeständnisse ma-
chen wir schon genug durch diesen Krieg.“
Er weist auf die Tür, herrscht mich an zu ver-
schwinden und entfernt sich.
„Ich hasse es, jemanden in den Rücken zu schie-
ßen“, warne ich ihn.
Er hat die Hand schon am Geländer, dreht sich zu
mir um, betrachtet meine Waffe und bricht in
schallendes Gelächter aus.
„Jetzt sind Sie vollkommen übergeschnappt,
Kommissar.“
Ich höre mich stammeln: „Es gibt, wie es heißt,
drei Instanzen, die über die Menschen urteilen,
Monsieur Ghoul. Das Gewissen, die Justiz und
Gott. Die ersten zwei können sich irren, die dritte
Instanz jedoch nie. Der werden Sie jetzt vorge-
führt.“
Seine Züge verblassen mit einem Mal. Sein Ge-
sicht wird aschfahl, seine Lippen wirken wie aus-
gedörrt.
„Das meinen Sie doch nicht im Ernst, Kommis-
sar! Sie sind Polizist. Sie haben nicht das Recht
dazu.“
„Ich fürchte, es ist das letzte Recht, das mir noch
geblieben ist.“
Als ich wieder zu mir komme, merke ich, daß ich
noch immer wie ein Rasender auf den Abzug drü-
cke, während der Lauf meiner Waffe schon wieder
abgekühlt ist.
Nachwort
Nous avons pris un mauvais départ dès 1954. Notre révolution était un fiasco (Wir hatten 1954 einen schlechten Start. Unsere Revolution war ein einziges Fiasko). So bewertet Ghoul Malek in Morituri die Errungenschaften des algerischen Unabhängig-keitskampfes und bringt damit gleichzeitig zum Ausdruck, daß die Wurzeln des blutigen Konflikts in Algerien weit in die Geschichte des Landes zurückreichen und sich die gegenwärtige Situation nur aus dem komplexen Zusammenspiel von histori-schen, wirtschaftlichen, religiösen und politischen Fakten und Interessen verstehen läßt.
Nachdem der junge Staat 1962 seine Unabhängigkeit von
Frankreich erlangt hatte, waren die folgenden Jahrzehnte von der Alleinherrschaft des FLN ( Front de
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