Commissaire-Llob 3 - Herbst der Chimären
Deutschland sicher einen Bürgerkrieg
ausgelöst, doch der Welt wären Holocaust, Mas-
sendeportationen und Gaskammern erspart geblie-
ben.“
„Wir hatten nie die Absicht, einen Weltkrieg aus-
zulösen!“ protestiert der Scheich.
„Und die kulturelle Säuberung, die der FIS ange-
kündigt hat? Und der Galgen, den er den Intellek-
tuellen in Aussicht gestellt hat? Und der Totalita-
rismus, für den er sich stark gemacht hat? Ich bin
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überzeugt, das Land hätte im Falle eines Wahlsiegs
des FIS einen Genozid ungeahnten Ausmaßes er-
lebt. Zum Glück hat der FIS den taktischen Fehler
begangen, zum bürgerlichen Ungehorsam aufzuru-
fen …“
Das ist der Moment, in dem Doktor Lounes Ben-
di, um sich Gehör zu verschaffen, mit dem Löffel
gegen den Tellerrand klopft. Mit ungeheurer Kon-
zentration und vernichtendem Lächeln blickt er
abwechselnd den Scheich und den Filmemacher
an.
„Etwas mehr Niveau, meine Herren, wenn ich
bitten darf. Wir sind hier doch nicht am Stamm-
tisch.“
In der Gewißheit, die ganze Tafelrunde in seinen
Bann gezogen zu haben, legt er den Löffel nieder
und lehnt sich gemächlich zurück. Mit zwei Fin-
gern liebkost er seine Lacoste-Krawatte. Neben mir
beginnt Madame Baha Salah wie eine läufige Sau
zu zittern. Seit wir zu Tisch sitzen, läßt sie ihn
nicht mehr aus den Augen. Und immer, wenn sich
ihre Blicke kreuzen, erbebt sie von Kopf bis Fuß.
Der Doktor holt tief Luft und donnert wieder los:
„Wie konnte es kommen, daß der FIS, der kurz vor
einem glanzvollen Wahlsieg stand, sich von heute
auf morgen in die Illegalität begeben hat? Wozu
der Aufruf zum zivilen Ungehorsam? Der FIS war
das virtuelle Parlament. Warum hat er schlagartig
alles hingeworfen, um im Gefängnis zu enden?“
Die Fragen des Doktors wandern einmal um die
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ganze Tafel, doch niemand mag sie aufgreifen.
„In der Tat“, zwitschert zuletzt ein kurzsichtiges
Fräulein, „das macht keinen Sinn. Das Volk war
doch auf seiner Seite. Aus allen Umfragen ging er
mit einer Mehrheit von über 80 Prozent hervor,
Wahlbetrug hin oder her.“
„Je länger man darüber nachdenkt, umso seltsa-
mer kommt es einem vor!“ bestätigt ein Schönling
wohl nur deshalb, um alle Blicke auf sich zu zie-
hen.
Der Doktor sieht ein, daß er die Latte zu hoch
gehängt hat, und lächelt noch eine Spur überhebli-
cher, bevor er erklärt:
„Die Sache mit dem bürgerlichen Ungehorsam
hat weder Hand noch Fuß. Damit nahm der
Schwindel seinen Lauf. Der FIS entlarvte sich als
ausführendes Organ. Alles war seit Jahren im De-
tail geplant. Der FIS ist nicht gekommen, um zu
regieren, sondern um Krieg zu führen. Die No-
menklatura hat allen Sand in die Augen gestreut.
Ihr schmutziges Geld quoll hinter der Fassade des
Sozialismus hervor und begann, sie zu verraten.
Sie fürchtete, hinweggeschwemmt zu werden von
der Welle der Empörung, die ihr Gemauschel und
ihre Spekulationen auslöste. Was sie brauchte, war
neuer Lebensraum. Und das so schnell wie mög-
lich. Es ärgerte sie, daß ihr Geld in die Banken im Ausland floß, daß sie Milliardensummen einfrieren
mußte. Sie wollte ihr Beutegeld zurück, wollte
hier, im eigenen Land investieren, einem Eldorado,
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das brachlag. Aber die Sache hatte einen Haken.
Jedesmal, wenn man durchblicken ließ, daß dieses
oder jenes hohe Tier ein großes Projekt lancieren
wollte, tuschelte es im Volk: Minn ayna laqa ha-da? Wie kommt der zu so viel Geld?’ So ging das nicht weiter. Man mußte ihr das Maul stopfen, dieser Nation von Nichtstuern … Aber wie? Nichts
einfacher als das! Ein Krieg mußte her! Eine Krise, eine richtig schöne beschissene Krise, aber eine
Krise, die sich von A bis Z steuern ließ … Auf die
Berberkarte setzen? Zu riskant fürs Vermögen. Die
Karte der Arabisierung? Die Intellektuellen sind
schlechte Söldner. Es galt ja, den Laden in die Luft zu jagen, alles abzufackeln, dem nationalen Ge-dächtnis ein Trauma einzuimpfen, die Nichtstuer,
die ‚Immobilisten’, zur Vernunft zu bringen und
dieses Volk undankbarer und verstockter Subven-
tionsempfänger solange auszuhungern, bis es sich
nicht mehr scheute, um Brot für seine Kinder zu
betteln, sich für den letzten Job zu prostituieren.
Dann hat die Stunde der Nomenklatura geschlagen,
die zynisch beteuert: ‚Wie gerne würde ich inves-
tieren, doch die Leute werden munkeln …’ ‚Zum
Teufel mit dem Gemunkel der Leute!’ wird man
dann sagen.
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