Commissaire-Llob 3 - Herbst der Chimären
Albanien … Was sich
hier bei uns abspielt, ist letztlich biologisch kondi-tioniert. Unser Land will erwachsen werden. Es ist
auf der Suche nach sich selbst. Eine schlichte Pu-
bertätskrise.“
Ich bin jetzt ganz allein auf der Veranda, übers
Gelände gesunken, halb weggetreten. Da kommt
Madame Rym angeschlängelt. Sanft legt sich ihre
Hand auf meine.
„Warum haben Sie mich zu diesem Karneval der
Beknackten geladen, Madame Rym?“
„Damit Sie wissen, was ich Woche für Woche
auszustehen habe.“
„Dazu zwingt Sie doch keiner.“
„Deshalb versuche ich ja auch, neue Freunde zu
gewinnen.“
„Ach tatsächlich?“
„Absolut. In meiner Welt spricht man nur über
Profit, Politik und Finanzgeschäfte, nie über andere Dinge. Ich bin es leid. Ich bin eine Träumerin,
Monsieur Llob. Am liebsten säße ich irgendwo an
einem Flußufer und würde alles vergessen, schlös-
se einfach die Augen und stellte mir vor, daß Mär-
chen wahr werden: Sogar einen Frosch würde ich
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dafür auf sein feuchtes Maul küssen. Manchmal
packt mich die Lust, einfach die Tür zuzuknallen
und in den Büschen meine Träume aufzustöbern.
Ich bin ein Mädchen vom Land, Monsieur Llob.
Mein Vater besaß eine Hütte am Waldrand. Er ist
nur deshalb in die Stadt übersiedelt, weil er fürchtete, man könnte mir hinter einem Baum auflauern.
Ich bin leidenschaftlich gern durch die Wälder ge-
streift.“
Ihre Finger haben sich mittlerweile in meiner
Hand eingenistet. Ihre Augen, in denen sich das
Laternenlicht spiegelt, funkeln wie zwei Juwelen.
Ihr Parfüm ist stärker als alle Düfte, die aus dem
Garten aufsteigen.
„Ich bin wie meine Rosen, die ich hingebungs-
voll pflege. Aber das fällt keinem meiner Gäste
auf. Alle kommen sie nur hierher, um zu feiern.
Und im Morgengrauen, wenn sie wieder gehen,
glänzen Tränen in meinen Augen, als wären es
Tautropfen auf den Blütenblättern.“
Sie faßt mich um die Taille, und ich spüre deut-
lich den Druck ihrer Brüste gegen meine Rippen.
„Kommen Sie, mein Freund, lassen Sie uns zu
Tisch gehen.“
Ich folge ihr.
„Mögen Sie Blumen, Monsieur Llob?“
„Unter anderem.“
„Haben Sie eine Vorliebe für eine bestimmte
Sorte?“
„Nun, sagen wir, ich sehne mich nach jener, die
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ich wohl kaum noch werde pflücken können.“
„Nämlich?“
„Der Jugendblüte.“
Das Dinner wird in einem riesigen, mit Samttape-
ten ausgeschlagenen Saal serviert. Das Bankett
erstreckt sich über mindestens zwanzig Meter Län-
ge. Es ist so üppig, daß man davon eine ganze Sip-
pe zwei Tage lang satt bekäme. Ich werde zwi-
schen zwei knusprige Damen an die Mitte der Ta-
fel plaziert, zu meiner Linken Madame Baha Salah,
rechts von mir Madame Haraj. Den Vorsitz macht
Amar Bouras. Jeder andere hätte mich überrascht.
Da er meint, er sei auf einem Kongreß, leiert er
einen unverständlichen Diskurs herunter und bittet
uns, massenhaft seiner Bewegung für die Wieder-
herstellung von Frieden und Wohlstand in Algerien
beizutreten. Sein Politbüro klatscht eifrig Beifall.
Das ist das Signal für die wackeren Kämpen: Im
Sturm werden die Suppentassen eingenommen.
„In welcher Partei sind Sie denn, Monsieur
Llob?“ fragt mich meine Nachbarin zur Rechten.
„In meiner Familie, Madame.“
„Da haben Sie recht. Aber wo ist denn Ihre
Frau?“
„Zu Hause. Sie bereitet gerade mein Bad vor.“
„Kleiner Heimlichtuer. Während Ihre Frau Ihnen
das Bad zubereitet, suchen Sie krampfhaft nach
einer Rechtfertigung dafür.“
Eine zweite Detonation läßt uns hochfahren.
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Doch gleich nimmt Baha Salah das Heft in die
Hand: „Kümmert Euch nicht um diese Idioten,
liebe Freunde. Schlemmen wir bis zum Gehtnicht-
mehr!“
Die Selbstsicherheit des Industriellen entspannt
die Atmosphäre. Hinter einer dicken Dame aus der
Bourgeoisie versteckt, hat Scheich Alem mich im
Visier. Kaum wende ich den Kopf ab, schmettert er
los: „Neunundsiebzig!“
„Schäm dich, Scheich!“ empört sich der Filme-
macher. „Ein Hadsch wie du, mit einem Bein
schon im Grab! Wie kannst du dich nur freuen,
dein eigenes Land in Flammen aufgehen zu se-
hen!“
„Daran ist nur die Armee schuld!“ deklamiert der
Bärtige. „Sie hätte den Wahlprozeß nicht unterbre-
chen dürfen.“
„Die Armee hat nur ihre Pflicht getan. Hätten die
deutschen Offiziere damals denselben Mut bewie-
sen, um Adolf Hitler den Weg zu versperren, dann
hätte das in
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