Commissaire Mazan und die Erben des Marquis: Kriminalroman (Knaur HC) (German Edition)
über die Windtemperatur im Verlauf der historischen Ereignisse. In dieser Zeit traf ich César Alexandre, Victorine Hersant, Alexis Lagadère und Philippe Amaury das erste Mal.«
Blandine bedachte Zadira mit einem ungewohnt ernsten Blick aus ihren himmelblauen Augen, bevor sie fortfuhr:
»Das war kurz nachdem sich ein siebzehnjähriges Mädchen in Lacoste von der Schlossmauer des Châteaus des Marquis de Sade gestürzt hatte. So sollte es zumindest aussehen. Aber ich glaubte nicht an Selbstmord.«
Sie inhalierte, stieß den Rauch durch die Nase wieder aus.
»Und?«, lockte Blandine dann. »Wollen Sie mehr sehen?«
Zadira nickte.
Die blondierte Journalistin lächelte schmal.
»Sie hieß Élaine de Noat und träumte von einem süßen Leben am Meer. Die Perspektive, das Hotel ihrer Eltern zu erben, einen biederen Burschen aus der Gegend zu heiraten und bis zum Zahnausfall in Lacoste zu bleiben – all das schnürte Élaines Seele ein.«
Blandine schaute so abwesend, als ob sie völlig in die Vergangenheit abgetaucht wäre.
»Sie kannten sie also gut?«
»Wenn man als Dorfpomeranzen um eine Handvoll guter Männer, guter Jobs und guter Wohnlagen ringt, dann kennt man sich gut, oh, ja. Die Region des Luberon mag auf Feriengäste wie das Paradies wirken. Aber zwischen September und Juni sind die Bergdörfer Kriegsschauplätze. Es wird um alles gekämpft. Um Wasser. Um das Darlehen bei der Credit Agricole. Ob man als Letzter in einem Haufen mittelalterlicher Steine ohne gescheite Heizung wohnt. Allein in Lacoste ist die Einwohnerzahl in zehn Jahren von über eintausend auf vierhundertfünfzehn geschrumpft.«
Blandine goss ihren Pastis mit nur wenig Wasser auf.
»Außerdem war Élaine mit mir in einem der Künstlerkurse. Aktzeichnen. Bei Guillaume Rimaud. Da wollten wir Frauen zwischen fünfzehn und fünfundfünzig alle hin. Weil der Lehrer unglaublich gut aussah und als demokratischer Verführer galt, der über Altersgrenzen hinwegsah. Egal ob nach oben oder unten.«
Sie warf ihren Kopf lachend in den Nacken.
»Guillaume Rimaud … bei den Malkursen haben wir Frauen über all das gesprochen, was wir sonst für uns behalten. Über unsere Träume, unsere Liebhaber, unsere Pläne.«
Für einen Moment verlor sich Blandine in ihren Gefühlen von damals, die die Zeit unversehrt überdauert hatten.
»Bevor Pierre Cardin sich die Hälfte der Häuser und die Schlossruine in Lacoste unter den Nagel gerissen und in ein Walt Disney für Schnösel verwandelt hat, war das Dorf unberührt und seine billigen Räume ein Geheimtipp für Maler, Bildhauer oder Kunsttischler. Das waren zwar keine guten Partien – aber sie brachten die große Welt nach Lacoste.« Blandine winkte Jean-Luc für eine weitere Bestellung. »Genauso wie César Alexandre und seine drei Freunde.«
Sie erzählte, wie sich eines Sommertags Anfang der Neunziger vier gut gekleidete, höfliche und wohlhabende junge Menschen in Lacoste umgesehen hatten. Lange waren sie auf der Spitze des Hangdorfes in der verfallenen Burg herumgeklettert, die der Marquis de Sade einst bewohnt hatte. Lacoste war ein Lehen seiner Familie, die an mehreren Orten in der Grafschaft ihre Besitztümer hatte. Anschließend mieteten die vier ein Haus, außerhalb des Dorfes. Im darauffolgenden Jahr kauften sie sogar eine nicht einsehbare Villa mit Pool, Blick auf das Calavon-Tal und wunderschönen hohen alten Eichen.
Sie kamen in drei Sommern, ließen sich zum Einkaufen und Diner im Dorf blicken, waren höflich, blieben aber für sich. Jeden Sommer brachten sie einen anderen weiblichen Gast mit. Jedes Mal eine sehr hübsche und sehr junge Frau. Blandine nippte an ihrem Pastis und fuhr dann fort:
»Wir dachten, es sei jeweils die neue Freundin von einem der drei Männer. Die waren nun mal aus jenen Kreisen, in denen man sich ständig neue junge, schöne Frauen zulegt.«
Alles »Enarchen«, die an der École Nationale d’Administration gelernt hatten. Die »Enarchie« war im Volksmund jene Kaderschmiede einer reichen Machtelite, die die Geschicke Frankreichs seit Charles de Gaulle lenkte.
»1995 holten sie sich das erste Mädchen aus dem Dorf: Élaine. Siebzehn, verlobt und hungrig auf das Leben. Eine perfekte Kandidatin.«
»Kandidatin für was?«
»Für große Erwartungen? Élaine war nach dem ersten Wochenende in der Villa verändert. Als leuchtete sie von innen heraus, so sehr, dass Rimaud sich in sie verknallte und alle anderen Frauen links liegen ließ. Er hat Élaine damals
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