Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe

Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe

Titel: Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
Vom Netzwerk:
Polizeiwache gewesen, die das Glück gehabt hätte, sie als Beamtin einzustellen. Aber sie war nun einmal keine Polizistin, und er durfte nicht zulassen, dass sie sich als eine ausgab, wenn sie am Telefon Fragen stellte oder Auskünfte einholte. Schlimm genug, dass er über ihre fragwürdigen Recherchen im Internet hinwegsah oder sie gar noch dazu ermutigte. Aber irgendwo gab es eine Grenze [105]  zwischen dem, was man ihr erlauben konnte, und dem, wo Schluss war: Brunettis Dilemma war nur, dass die Grenze, die er zog, niemals gerade war und nie zweimal an derselben Stelle.
    Wie der Autopsiebericht und das Protokoll der Spurensicherung auf seinen Schreibtisch gelangt waren, wusste er nicht, aber jetzt lagen sie jedenfalls da. Er legte die Papiere in die Mitte der Tischplatte, nahm seine Lesebrille aus dem Etui in seiner Tasche, setzte sie auf und begann zu lesen.
    Rizzardi, ein ruhiger Zeitgenosse, dem Eitelkeit und Prahlerei ansonsten vollkommen fremd waren, erlag nur dann der Versuchung, sich hervorzutun, wenn es um seine Kleidung und um seine Prosa ging. Dezent und unaufdringlich, waren seine Anzüge und Mäntel, sogar sein Regenmantel, stets von so ausgesuchter Eleganz, dass bei Brunetti Zweifel an den Quellen seines Einkommens aufkamen; seine Prosa aber, grammatikalisch präzise und überaus wortgewandt, übertraf alles, was Brunetti sonst in amtlichen Berichten las. Nicht ungewöhnlich, dass der Pathologe ein Organ als »umrankt von kleinen Venen« beschrieb oder mit Zigaretten herbeigeführte Brandwunden auf dem Rücken eines Folteropfers als »Sternennebel« bezeichnete. Schon im ersten Autopsiebericht, den Rizzardi auf sein Ersuchen fertigte, hatte Brunetti über die Schnittwunden im Bauch des Opfers, an denen es verblutet war, gelesen: »Die Verletzungen erinnern an Fontanas rote Phase.«
    Sein Bericht über Signora Altavilla war hingegen schnörkellos. Er beschrieb den Zustand ihres Herzens und gab als Todesursache plötzliches Herzversagen an. Er beschrieb die Verletzung an den Halswirbeln und dem umliegenden Gewebe [106]  sowie die Platzwunde an ihrer Stirn und wies darauf hin, dass beides sich durchaus mit einem unglücklichen Sturz unmittelbar vor ihrem Tod vereinbaren ließ. Brunetti legte den Autopsiebericht beiseite und schlug den der Spurensicherung auf, wo von Blut und Hautpartikeln an der Heizung im Wohnzimmer die Rede war, Blut vom selben Typ wie das von Signora Altavilla.
    Rizzardi erwähnte auch einen »graublauen Fleck« im Bereich des linken Schlüsselbeins der Toten, Länge 2,1 Zentimeter. Die Abdrücke an ihren Schultern seien »kaum erkennbar« - in Brunettis Augen eine für den Pathologen ungewöhnlich banale Formulierung.
    Er überflog den Rest des Berichts: Anzeichen für mindestens eine Geburt, verheilter Bruch des linken Handgelenks, Ballenzehe am rechten Fuß. Alles von Rizzardi kommentarlos aufgezählt. Brunetti wusste, in einem von Vice-Questore Giuseppe Patta geführten Kommissariat würde man aus derart nichtssagenden Befunden auf einen natürlichen Tod schließen.
    Brunetti legte den vorläufigen Bericht der Spurensicherung auf den von Rizzardi und las ihn noch einmal gründlich durch. Er spiegelte Pattas Vorliebe für Aussagen, die sich nicht festlegten. Abgesehen von dem Blut an der Heizung hatte die Untersuchung der Wohnung nichts Auffälliges ergeben.
    Auf der letzten Seite kam das Aus für jegliche Hoffnung Brunettis, doch noch weitere Ermittlungen durchführen zu können. Im Medizinschränkchen in Signora Altavillas Bad hatte man Propafenon gefunden. Dieser Beweis für eine Vorerkrankung bestätigte Rizzardis posthume Diagnose: Tod durch Herzversagen.
    [107]  Brunetti nahm die beiden Berichte und schob sie an den Kanten akkurat zusammen. Dann faltete er die Hände und legte sie auf das oberste Blatt. Er studierte seine Daumen, bemerkte, dass die rechte Manschette seines Hemds auszufransen begann, sah davon weg und aus dem Fenster.
    Die Berichte würden Patta gefallen: Das stand fest. Aber sie würden auch - da war er sich genauso sicher - Niccolini gefallen. Nein, das war ein zu starkes Wort. Brunetti vergegenwärtigte sich seine Begegnung mit dem Tierarzt noch einmal, langsam wie einen Film, den er nach Belieben vor- und zurückspulen konnte.
    Genauer müsste man Niccolinis Reaktion als Erleichterung bezeichnen, eine Reaktion, wie Brunetti sie in den Mienen von Leuten beobachtet hatte, wenn ein Richter sie für »nicht schuldig« erklärte. Aber inwiefern nicht

Weitere Kostenlose Bücher