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Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe

Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe

Titel: Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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sie dort nach einer Antwort. »Weil das in einer Männerwohnung etwas ganz anderes bedeuten würde als in einer Frauenwohnung.«
    »Was würde es in einer Männerwohnung bedeuten?«, fragte er, obwohl er es zu wissen glaubte.
    [102]  Sie drehte sich zu ihm herum. »Bei einem Mann wäre es ein Vorrat an frischer Unterwäsche für eine Frau - oder für die Frauen die er über Nacht mit nach Hause nimmt«, sagte sie und lauschte ihren Worten nach. Dann erklärte sie weniger überzeugt: »Aber dann wäre es wahrscheinlich keine schlichte Baumwolle, oder? Und er würde die Sachen nicht in einem anderen Zimmer aufbewahren. Das müsste schon ein sehr seltsamer Vogel sein.«
    Demnach erschien es ihr ganz und gar nicht seltsam, dass ein Mann in seiner Wohnung Damenunterwäsche in verschiedenen Größen vorrätig hielt, solange die kostspielig war und er sie in seinem Schlafzimmer aufbewahrte. Brunetti fragte sich, welche Geheimnisse ihm sonst noch durch sein Ehegelöbnis verschlossen waren, erkundigte sich dann aber nur: »Und bei einer Frau?«
    »Zunächst einmal spricht nichts gegen dieselbe Erklärung«, sagte sie und überraschte ihn damit, wie selbstverständlich sie das zu finden schien. Dann aber fügte sie lächelnd hinzu: »Eher weist es aber darauf hin, dass sie die Frauen aus einem alltäglicheren Grund mit nach Hause genommen hat.«
    »Zum Beispiel?«, fragte er.
    »Zum Beispiel, um ihnen Schutz vor Männern zu gewähren, die sie für eine Nacht mit nach Hause nehmen«, sagte sie in einem Ton, der andeutete, dass sie es ernst meinen könnte.
    »Das wäre eine sehr puritanische Interpretation.«
    »Nicht unbedingt«, sagte sie kühl, um dann etwas freundlicher fortzufahren: »Ich denke eher, sie hilft illegalen Flüchtlingen, Frauen, die sie bei sich wohnen lässt - in Sicherheit -, solange sie Arbeit oder eine Wohnung suchen.« Sie dachte [103]  über andere Möglichkeiten nach. »Es könnte auch sein, dass sie die Frauen vor anderen Leuten schützen wollte.«
    »Zum Beispiel?«
    »Vor Männern, die sich einbilden, sie hätten über sie zu bestimmen. Liebhaber. Zuhälter.«
    Brunetti sah sie gleichmütig an, sagte aber kein Wort. Er ließ sich ihre Worte durch den Kopf gehen und fand, sie könnte recht haben. Schließlich fragte er nach: »Meinen Sie, so etwas könnte sie ganz allein organisieren? Wie sollte sie von diesen Frauen erfahren oder Verbindung mit ihnen aufnehmen?«
    Wie ein Ritter sich erst in den Sattel schwingt, bevor er seine Lanze hebt, kehrte Signorina Elettra an ihren Computer zurück. Sie tippte etwas ein, sah auf den Bildschirm und tippte weiter. Brunetti stieß sich vom Schreibtisch ab und beobachtete sie. Schließlich winkte sie ihn heran und sagte: »Sehen Sie mal.«
    Er trat hinter sie und sah auf den Bildschirm: die übliche Fotomontage einer Frau, ihr Gesicht vom Betrachter abgewandt, hinter ihr der bedrohliche Schatten eines Mannes. Dazu die Überschrift: »Schluss mit illegaler Einwanderung«, gefolgt von ein paar Zeilen, in denen Hilfe und Unterstützung angeboten wurde, sowie eine 800er Telefonnummer. Er las nicht alles, zückte aber sein Notizbuch und schrieb sich die Nummer auf.
    »Wissen Sie noch, was der Präsident letztes Jahr gesagt hat?«, fragte Signorina Elettra.
    »Zu dem Thema?«, fragte er und wies auf den Bildschirm.
    »Ja. Erinnern Sie sich an die Zahl, die er genannt hat?«
    »Die Zahl der Opfer?«
    [104]  »Ja.«
    »Nein, ich erinnere mich nicht.«
    »Ich schon«, sagte sie, und Brunetti war klar, was ihr Tonfall zu bedeuten hatte: Sie erinnerte sich daran, weil sie eine Frau war, und er nicht, weil er ein Mann war. Sie sagte aber nichts mehr, und Brunetti beließ es dabei.
    »Soll ich etwas unternehmen, Signore? Soll ich da anrufen?«
    »Nein«, sagte er allzu hastig; seine Antwort überraschte sie offensichtlich. »Das übernehme ich.« Er wollte noch etwas sagen, um seine Reaktion auf ihren Vorschlag zu übertünchen, aber damit hätte er alles nur noch schlimmer gemacht.
    »Noch etwas?«, hörte er sie fragen.
    »Nein, danke sehr, Signorina. Die Nummer genügt mir.«
    »Wie Sie wünschen, Dottore«, sagte sie und beugte sich über den Bildschirm.
    Schon auf der Treppe bereute er die Heftigkeit, mit der er Signorina Elettras Anerbieten ausgeschlagen hatte; sie war den meisten in der Questura so eindeutig überlegen, dass sie von ihm etwas Besseres verdient hatte. Einfallsreich und klug, war sie auch mit den Gesetzen bestens vertraut und wäre eine Zierde jeder

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